Dienstag, 26. November 2024

Wiener Symphoniker, musikalische Leitung Marie Jacquot, Klavier: Bruce Liu, Alte Oper Frankfurt, 25.11.2024 (eine Veranstaltung von PRO ARTE)

Wiener Symphoniker (Foto: Peter Rigaud)


Viel Schicksal und triumphale Höhepunkte

Der pianistische Überflieger und das aufregendstes Talent des 21. Jahrhunderts an den Tasten, Bruce Liu (*1998), mit den Wiener Symphonikern, einem der ältesten und renommiertesten Orchester der Welt, in der Alten Oper Frankfurt unter der Leitung von Marie Jacquot (*1990), die in der Alten Oper ihr Debüt feierte. Was will man eigentlich mehr? 

Dazu ein Programm von Herz und Schmerz, mit viel Schicksal und triumphalen Höhepunkten garniert. Ein verregneter Abend draußen, der drinnen eigentlich alles zu bieten versprach, was man sich nur wünschte.


Ein Déjà-vu

Ludwig van Beethovens (1770-1827) Drittes Klavierkonzert in c-Moll op. 37 (1802) und seine Fünfte Sinfonie c-Moll op. 67 (1808) standen auf dem Programm, eingeleitet von Anton Bruckners (1824-1896) Adagio aus der Siebenten Sinfonie E-Dur WAB 107 (1884/96), eine Bearbeitung seines Schülers Ferdinand Löwe (1865-1925) von knapp sieben Minuten für 16 Bläser und 2 Perkussionisten.

Spontan war man an den Juni 2023 erinnert, wo am selben Ort nahezu dasselbe Programm vom Mahler Chamber Orchestra (MCO) unter der Leitung von Andris Nelsons und Lang Lang am Flügel bestritten wurde. (ausgenommen die Coriolan Ouvertüre statt des bearbeiteten Adagios). Dazu aber später.


Marie Jacquot (David Payr) 

Himmlischer Bittgesang

Zunächst glänzten die Blechbläser des Orchesters mit dem feierlichen Grabgesang zur Einsegnung Anton Bruckners am 11.10.1896 in der Wiener Karlskirche. Mit seiner 7. Sinfonie, die 1884 in Leipzig mit großem Erfolg uraufgeführt wurde, hatte sich der bis dahin Geschmähte quasi freigeschwommen. Die langersehnte Wende war eingetreten. 

Sein Schüler und Verehrer, Ferdinand Löwe, damaliger Chefdirigent der Wiener Symphoniker, hatte, quasi über Nacht, anlässlich der Beerdigung des gerade Verstorbenen das Adagio, eine Hommage an Siegfrieds Tod aus Wagners Götterdämmerung, in Kurzfassung umgeschrieben, ohne die Struktur zu verändern, woraus ein eigenständiges Werk wurde, was bis heute begeistert.

Ein Trauermarsch von tiefer Eindrücklichkeit, das die 18 Instrumentalisten auf der Bühne des großen Saals der Alten Oper Frankfurt mit warmem Timbre im Stil eines himmlischen Bittgesangs vorstellten. Das Schicksal meinte es gut.


Bruce Liu (Foto: Website)

Ganz Musik – Grenzen sprengen

Dann Bruce Liu, der vor großem Orchester lange auf seinen Einsatz warten musste, denn das Vorspiel enthält zunächst die gesamte Exposition, bevor der Pianist eingreift. Bemerkenswert: er sitzt auf einem Orchesterstuhl mit Lehne. Viele Fragen ... dient das vielleicht der Korrektur seiner Haltung, denn er neigt in Regel dazu, den Körper während des Spiel weit nach hinten zu beugen? Jedenfalls war, das sei vorweggenommen, keinerlei Beeinträchtigung seines Spiels auf den Tasten feststellbar, im Gegenteil.

Beethoven schrieb dieses schicksalshafte Werk in einer Zeit des Umbruchs. Bekanntlich brauchte er mehrere Jahre zu seiner Fertigstellung, wohl auch deshalb, weil er in der Zwischenzeit mit seinem unheilbaren Hörleiden konfrontiert wurde, ihn Selbstmordgedanken plagten und sein Heiligenstädter Testament von 1802 zu einem Manifest dazu wurde, „dem Schicksal in den Rachen zu greifen“ und sich ganz seiner Musik zu widmen und ihre Grenzen zu sprengen.



Marie Jacquot, Blechbläser und Perkussionisten der Wiener Symphoniker
Foto: H.boscaiolo

Viel Dialog – viel Improvisation

Das dritte Klavierkonzert befindet sich zwar immer noch im Bereich des Herkömmlichen: viel Mozart und und Haydn sind darin enthalten sowie noch eine klare Orientierung an der klassischen Sonatenform. Aber auch bereits typische Beethovensche Charakterzüge kann man feststellen. 

Dazu gehören ihre sinfonische Idee, die Zusammenführung von Solo und Tutti, die improvisatorischen Elemente vor allem in der Kadenz, aber auch der extreme Wechsel zwischen Düsterkeit und Heiterkeit, zwischen Moll und Dur. Auch die Dialoge zwischen Klavier und Instrumentengruppen gehören dazu, besonders hervorzuheben die „Schlussdiskussion“ zwischen Klavier und Pauke in der Coda des Rondo Allegro.

Bruce Liu, Wiener Symphoniker (Foto: Andreas Etter)

Jeder Ton bedeutungsvoll

Bruce Liu – ein Vergleich mit Lang Lang verbietet sich, obwohl er ähnlich gekleidet wie Lang Lang im chinesischen Look auftrat – ist eher introvertiert und von daher schon ein eigener Charakter. Sein Spiel ist ganz Musik, hochkonzentriert achtet er auf die Gesamtheit der Partitur. Er kommuniziert in jedem Takt mit dem Orchester und der Dirigentin (die allerdings zu wenig auf ihn einging). Sein brillantes Spiel achtet nicht auf perfekte Technik, sondern ausschließlich auf den musikalischen Ausdruck.

So sind seine Phrasen nie rein virtuos, sondern immer mit Inhalt gefüllt. Herausragend seine Kadenz, die bereits Beethoven nicht ausschrieb, sondern der Improvisation der Solisten überließ. Liu spielt sie wie von einem anderen Stern. Auch sein Largo, das er solistisch einleitet, ist von hinreißender Schönheit, von romantischer Innerlichkeit geprägt. Jeder Ton bedeutungsvoll, jede Ausschmückung mit Sinn erfüllt.


Bruce Liu, Wiener Symphoniker (Foto: Andreas Etter)

Das Leben tausendmal leben“

Das Rondo Allegro wiederum ist ein Ausbund an Lebensfreude und Zuversicht. Hier nimmt Beethoven sein Schicksal in die Hand und schreitet unmittelbar zum Licht. 

Bruce Liu nimmt hier gleichsam das Heft in die Hand. Die Dirigentin wird zur Nebensache, er dialogisiert mit dem Orchester und das mit Bravour. Sein Spiel ist einfach nicht von dieser Welt und Beethoven, der hier dem Schicksal in den Rachen greift, hätte seine Freude daran gehabt und vielleicht gerufen: „Oh es ist schön das Leben tausendmal leben!“

Seine Zugabe, das Chopinsche Fantasie-Impromptu in cis-Moll konnte das alles nur noch bestätigen.


Bruce Liu, Marie Jacquot, Wiener Symphoniker 
(Foto: H.boscaiolo)

Zwei unterschiedliche Kaliber

Tatsächlich hätte man sich die Dirigentin auch wegdenken können (wie es vielfach schon praktiziert wird, siehe Buchbinder oder auch Barenboim, die vom Klavier aus dirigieren). Lang Lang spielte damals souverän, mit Witz und extrovertiert, Bruce Liu dagegen mit tiefem musikalischem Verständnis und introvertiert, aber der musikalischen Idee verpflichtet. Andris Nelsons war damals ein anderes Kaliber, allerdings auch mit kleinerem Orchester. Marie Jacquot dagegen ist sehr diszipliniert aber wenig inspirierend für das Orchester, das auch ohne sie hätte spielen können. Das sollte sich auch in der abschließenden Fünften von Beethoven bestätigen.


Wiener Symphoniker (Foto: Peter Rigaud)

Ein Zeitdokument voller Geschichten

Mit ihr klopft im wahrsten Sinne das Schicksal an die Pforte. Auch sie brauchte einige Zeit zu ihrer Fertigstellung. Beginnt Beethoven doch mit ersten Skizzen bereits um 1803, bevor sie 1808 ihre Uraufführung im Theater an der Wien erfuhr, und das nicht gerade von Erfolg gekrönt. Heute gehört sie zu den bekanntesten und meistgespielten überhaupt. Sie ist ein Zeitdokument, ein Werk ohne Geschichte und doch voller Geschichten, denn sie wird mit jeder neuen Interpretation auch immer wieder neu geschrieben.

Die Wiener Symphoniker hatten sich einiges vorgenommen, um auch in die Phalanx der "Neu geschriebenen Sinfonie“ eindringen zu können. Das aber gelang nur bedingt. Da war Andris Nelsons mit seinem MCO von einer anderen Liga.


Marie Jacquot, Wiener Symphoniker (Foto: H.boscaiolo)

Per aspera ad astra?

Bereits im Eingangssatz, dem Allegro con brio, vermisste man die emotionale Kraft, das Schmetternde, ja Niederschmetternde. Es fehlte an Energie, was aber auch am Dirigat von Marie Jacquot lag. Sie dirigierte sehr formal, ließ dem Orchester keinen Platz zur Expressivität und zur freien Entfaltung. Ja, man wurde den Eindruck nicht los, dass man nur mit halber Lunge spielte.

Auch das Andante con moto fällt darunter. Hier ließen die Einsätze zu wünschen übrig. Man war sogar von einer gewissen Langeweile nicht verschont, was sich auch im Publikum durch Räuspern und Unruhe bemerkbar machte.

Erst das Scherzo des dritten und das Allegro des vierten Satzes schien Leben in die Bude zu bringen. Gelungen das Fugato des Trios mit den waghalsigen Passagen der Kontrabässe, auch wenn hier ebenfalls viel Schwammiges und Nebulöses vorherrschte. Wo war das per aspera ad astra, der Weg von der Nacht zum Licht, wo der Triumph, das Schicksal überwunden zu haben? Alles das blieb im Ungefähren. Es fehlte an Kraft und Zuversicht, ja an Inspiration.


Marie Jacquot, Wiener Symphoniker (Foto: H.boscaiolo)

Beethoven von der Rolle

Sicher gehören die Wiener Symphoniker zum Besten der Besten, aber an diesem Abend war Beethoven ein wenig von der Rolle gesprungen.

Die beiden Zugaben von Johann Strauss Junior, darunter die Tritsch-Tratsch-Polka von 1858, konnten zwar die Gemüter aufheitern, aber vom eigentlichen Dilemma dieses Abends nicht ablenken.




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