Montag, 4. November 2024

Lulu, Oper in drei Akten von Alban Berg, Oper Frankfurt, Premiere am 03.11.2024

Brenda Rae (Lulu), dahinter: Eve Poaros (Anima, Alter Ego)
alle Fotos: Barbara Aumüller

Weiblicher Sprengsatz – mehr als femme fatale

Kommen wir gleich zur Sache: Lulu ist „das schönste und gleichzeitig gefährlichste Raubtier“, unter den wilden Bestien, so wird sie zumindest im Prolog der gleichnamigen Oper vom Tierbändiger vorgestellt. Sie sei geschaffen, „Unheil anzurichten, zu locken zu verführen, zu vergiften und zu morden … ohne dass es einer spürt“. Alban Berg (1885-1835), der Schöpfer dieser Oper, sah in ihr allerdings eher „eine Heldin von überdimensionierter Kraft im Erleben und Erleiden“. 

Die Regie unter Nadja Loschky der Oper Frankfurt bezeichnet sie wiederum als „Faszinosum, als Brandbeschleuniger“ gesellschaftlicher Auflösungsprozesse, als weiblicher Sprengsatz, der sowohl als Opfer wie auch als Täter agiert.

Lulu ist also mehr, als eine femme fatale oder eine schlichte Männerverderberin, Urtyp eines Vamp, der Schmach, Schande und Tod über die bringt, die dem Zauber ihres Körpers, der Urgewalt ihrer Sexualität verfallen.


Simon Neal (Dr. Schön/Jack the Ripper), Brenda Rae (Lulu)

Im grellen Licht verbrennen

Die Frankfurter Inszenierung führt das Publikum gleich in ein Bühnenbild, das der klassischen Büchse der Pandora entnommen sein könnte. Ein sich öffnender und schließender, Bunker ähnlicher Bühnenaufbau, aus dem permanent das Unheil des Geschehens entweicht (Katharina Schlipf).

Bekanntlich hat Alban Berg (1885-1935) seine Oper nach den Tragödien Die Büchse der Pandora (1902) und Erdgeist (1895) von Frank Wedekind (1864-1918) konzipiert, in denen die Abgründe einer kranken Gesellschaft in der beginnenden Moderne am Ende des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Lulu durchleuchtet werden. 

Lulu als eine Art Kundry („Höllenrose“, „Urteufelin“) aus Wagners Parsifal? Oder eine Art weiblicher Don Juan, eine tragisch Suchende? Eine, die ins grelle Licht fliegt, um darin zu verbrennen?


v. l.: Brenda Rae (Lulu), Simon Neal (Dr. Schön/Jack the Ripper),
AJ Glueckert (Alwa)

Hilflosigkeit der normativen Gesellschaft

Der Frankfurter Inszenierung (wie gesagt Nadja Loschky, Regie, Yvonne Gebauer, Konzeption, Mareike Wink, Dramaturgie) gelingt mit Lulu, das sei vorweggenommen, ein glänzender Versuch, ihre Rolle in den Zeitgeist des 21. Jahrhunderts zu übertragen. Eine Lulu, die das Prinzip Leben schlechthin verkörpert. Das unzivilisierte Leben, das Begehren, die Triebhaftigkeit und die Natur pur, genauso, wie das zivilisierte Leben, das der sublimierten Gegenkräfte der bürgerlichen Welt.

Alle handelnden Personen sind in zeitlose, beige Klamotten gesteckt, lediglich Lulu und die illustre Gesellschaft der Banker und ihrer Schickeria fallen heraus (Irina Spreckelmeyer, Kostüme). Eine perfekte Idee der Zeitlosigkeit, wie auch Farblosigkeit, Tristheit und Hilflosigkeit der normativen Gesellschaft, mit perfekter Lichtgestaltung (Jan Hartmann).


Brenda Rae 

Aufstieg der Lulu

Die Handlung ist kurz erzählt: Das Alter Ego (Anima) von Lulu wird aus einem Abflussloch, aus der Gosse gezogen. Ein starker Einfall, denn das Alter Ego, hier von der Tänzerin Evie Poaros gestaltet, sieht sich täuschend ähnlich mit Lulu und begleitet sie wie eine zweite Haut durch die gesamte Oper bis zu ihrem Mord, um dann wieder in der Gosse zu verschwinden.

Lulu (Brenda Rae, Koloratursopran) wird quasi von Schigolch (Alfred Reiter, Bass) – er bezeichnet sich als ihr Vater, begehrt sie aber in Wirklichkeit – und von Dr. Ludwig Schön (Simon Neal, Tenor) von der Straße geholt. Letzterer ist Chefredakteur und eher an der günstigen Vermarktung seines Schützlings interessiert.

Lulu wird mit einem Medizinalrat Dr. Goll verheiratet, den allerdings der Schlag trifft, als er sie in flagranti mit dem Maler (Theo Lebow, Tenor) erwischt. Der Maler wird ihr zweiter Gatte, den das Schicksal ereilt, als er erfahren muss, dass Dr. Schön bereits mit Lulu verkehrte.

Lulu und Dr. Schön haben ein gestörtes Liebesverhältnis. Er begehrt sie, möchte sich aber von ihr lösen. Sie liebt ihn, weiß aber um ihre Unerfüllbarkeit. Als erfolgreiche Tänzerin zwingt sie ihn, sich von seiner Verlobten zu trennen und sie statt ihrer zu heiraten. Eine furchtbare Entscheidung, die sie zwingt, ihn, nach einem heftigen Streit, in Notwehr zu erschießen. Sie wird als Mörderin festgenommen.

v. l.: Theo Lebow (Freier, Maler), Brenda Rae (Lulu),
Eve Poaros (Anima)

Fall der Lulu

Jetzt beginnt ihr verhängnisvoller Abstieg, zurück zur Gosse. Mithilfe ihrer vermeintlichen Freundin, der Fürstin Geschwitz (Claudia Mahnke, Mezzosopran), einem dubiosen Athleten (Kihwan Sim, Bass), er will mit ihr Reichtum erwerben, Alwa (AJ Glueckert, Tenor), der Sohn Dr. Schöns und von ihr vergeblich verführt, denn er liebt an ihr lediglich die „musikalischen“ Extremitäten, und Schigolch, kann sie nach Paris fliehen, um dort als Edel-Tänzerin erneut Reichtum zu erwerben. Ihre Jungfrauenaktien steigen ins Unermessliche und machen viele reich.

Sie wird schließlich erpresst (Polizeiverrat) und kann durch List und Kleidertausch mit dem Groom (Bianca Andrew, Alt, Bräutigam, hier ihr Todbringer mit Totenkopfmaske) nach London entkommen. Dort wird ihr Schicksal besiegelt. Arm und ohne Unterstützung kann sie Ihre selbstsüchtigen Begleiter nur noch durch Prostitution ernähren. Gewalt herrscht in der Szene, Alwa wird von einem Freier ermordet und ihr letzter Kunde ist der bekannte Serienmörder von Soho, Jack the Ripper, ein Wiedergänger Dr. Schöns.


Reinste Symmetrie

Insgesamt sind 19 Sängerinnen und Sänger sowie Tänzer und Statisten auf der Bühnen vertreten. Sie alle zu nennen, wäre vergebliche Liebesmüh. Alle aber haben glänzend agiert und wesentlich zum Erfolg der Premiere beigetragen.

Die Oper ist in sieben Bildern unterteilt. Die Handlungsstruktur ist symmetrisch angelegt, entsprechend der musikalischen Reihentechnik der Zwölftontonmusik. So beginnt nach dem vierten Bild quasi der Krebs, das Palindrom der Reihen. Ihre spiegelbildliche Umkehrung, was nicht zuletzt durch einen riesigen Spiegel visualisiert wird.


AJ Glueckert (Alwa), Brenda Rae (Lulu)

Ein geniales Tonwerk

Überhaupt ist die Musik Alban Bergs der wirkliche Höhepunkt dieser Oper und vom Ensemble des Opern- und Museumsorchesters unter der Leitung von Thomas Guggeis hervorragend interpretiert und in Szene gesetzt worden.

Berg spielt mit den Tönen (so besteht ihr Grundmaterial aus etwa zehn Zwölftonreihen mit entsprechenden Permutation, das heißt Vertauschen von Tönen und Gruppen) und Klangfarben (die Instrumentierung besteht unter anderem aus Vibraphon, Triangel, Metronom, Trommel, Saxophon, Tuba, Klavier und insgesamt fünf Perkussionisten, die die Geräuschkulisse bedienen) und passt seine Musik ausgezeichnet der Anlage der beiden Tragödien Wedekinds an. Der Aufstieg bis zum vierten Bild und ab da der Abstieg. Musikalisch, wie gesagt, eine Art Palindrom. Ab jetzt wird alles quasi rückwärts gelesen.


Eve Poaros (Anima), Simon Neal (Dr. Schön)

Farbenreich und ausdrucksstark

Dieser Teil ist zwar weitestgehend in langjähriger Arbeit durch Friedrich Cerha (1926-2023) ergänzt worden (Berg konnte bekanntlich die Oper nicht beenden), und hat sie – wenn auch weniger farbenreich und teilweise weniger transparent und emotional auf die Person zugespitzt – doch logisch und folgerichtig zum Abschluss gebracht.

Die Partitur ist kammermusikalisch angelegt. Gut für die Akteure auf der Bühne, die eh ihre höchst schwierigen Partien mit größter Ausdruckskraft vor einem gewaltigen Orchesterapparat kaum hätten durchbringen können, was so schon schwierig war. 

An dieser Stelle seien Brenda Rae in der Titelrolle mit ihrem außergewöhnlichen Stimmumfang und ihren herrlichen Koloraturen, wie auch Simon Neal, ausgestattet mit einer herausragenden, gutturalen Stimmgewalt und seiner schauspielerischen Qualitäten herauszuheben, ohne die anderen Sängerinnen und Sänger, wie auch Akteure nur ansatzweise vernachlässigen zu wollen


Einheit von Form und Instrumentation

Ebenfalls lässt ein kleineres Ensemble viel Raum für solistische Einlagen und entsprechende, auf die handelnden Figuren ausgerichtete Klangfarben und musikalische Formen. 

So werden beispielsweise Dr. Schön und Lulu durch die Form der Sonate mit Thema und Seitenthema charakterisiert, Schigolch durch Kontrafagott und Bassklarinette, der Athlet durch Bleche wie Tuba und Posaune, und der Maler durch Kanon und Kanzonette. 

Alwa, der in seinem bürgerlich Beruf Komponist ist, hat das Rondo und den Refrain als Erkennungsmerkmal. Ein Beispiel dafür, dass sich bei ihm alles weniger um die Person als um die Gliedmaßen der Lulu dreht. Ihm ist, nebenbei bemerkt, das Klavier und die Harfe zugeordnet.


v. l.: AJ Glueckert (Alwa), Eve Poaros (Anima),
Alfred Reiter (Schigolch) Brenda Rae (Lulu),
Claudia Mahnke (Geschwitz)

"Ich bin, was ich bin"

Dreh- und Angelpunkt der Oper sind die Todesschüsse von Lulu auf Dr. Schön im 4. Bild des Zweiten Aktes. Stark ihr Monolog: „Ich habe nie etwas anderes sein wollen, als was ich bin!“ Hier dreht sich das Geschehen wie auch die Musik. 

Ab jetzt geht es auch charakterlich rückwärts mit den Personen. Dr. Schön wird zu Jack the Ripper, der Maler zum Freier. Überhaupt sind viele Rollen doppelt und dreifach besetzt, wie beispielsweise der Athlet und der Tierbändiger durch Kihwan Sim, die Theatergarderobiere, der Gymnasiast und der Groom durch Bianca Andrew, der Prinz, der Kammerdiener und der Marquis durch Michael Porter, oder der Theaterdirektor und der Diener durch Božidar Smiljanić. Alle ohne Makel in ihren Rollen.

Lulu ist und bleibt das Objekt der Begierde, die Personen um sie herum werden aggressiver. Selbst ihre Befreiung aus dem Knast ist mehr Folge einer Intrige (Stichwort: Fürstin Geschwitz) als selbstlose Hilfe für sie. 

Lulus Abstieg geht unaufhaltsam voran und wird durch Zuhälter, Banker und der Schickeria-Gesellschaft (Erik van Heyningen, Bariton, als Bankier, sowie Statisterie) gnadenlos kommentiert und begleitet. Die „Büchse der Pandora“ verwandelt sich jetzt in die Szenerie des „Erdgeistes“.


Brenda Rae (Lulu), Alfred Reiter (Schigolch)

Jurastudium und Frauenemanzipation

In London gelandet wird die Bühne zu einer Ansammlung von Hausrat, wild durcheinander aufgetürmt. Hier endet die Tragödie. Üblicherweise mit der Ermordung Lulus und der Geschwitz durch den Wiedergänger Dr. Schön im Gewand des Massenmörders Jack the Ripper. 

In dieser Inszenierung wird Lulu allerdings zur Aktiven, wenn nicht zur Aktivistin. Jack gibt ihr das Messer zum Selbstmord (Man erinnere sich an die entsprechende Szene im 2. Akt, dem Umkehrpunkt der Oper). Jetzt aber versucht sie ihrem Mörder zuvor zu kommen und greift ihn an. 

Im Gerangel unterliegt sie seiner physischen Übermacht und wird erstochen. Während Jack, alias Dr. Schön seine Tat rühmt: „Das war ein Stück Arbeit. Ich bin ein verdammter Glückspilz“, betrauert die Geschwitz ihren Engel, schwört ein Jurastudium zu beginnen und sich für die Frauenemanzipation einzusetzen

Schlussapplaus der Premiere von Lulu
Foto: H.boscaiolo

Eine Tragödie zum Nachdenken

Das Alter Ego, die Anima, verschwindet derweil wieder in der Gosse, aus der man sie anfangs gezogen hat. Ein Lichtblick in dieser doch düsteren und schonungslosen Tragödie der Moderne. 

Lulu ist alles andere als ein „Weibsteufel“, ein „Urteufel“ oder eine „Höllenrose“. Sie ist kein Don Juan oder Don Giovanni in Frauengestalt. Sie ist hier schlicht Opfer einer Gesellschaft, der sie als Täter erscheinen lässt, weil sie ihre Opferrolle grundsätzlich ablehnt. Ganz im Sinne Alban Bergs ist sie „eine Heldin von überdimensionierter Kraft im Erleben und Erleiden“. 

Eine Oper, von unglaublicher Intensität ausnahmslos aller Akteure, wie auch der Musiker und Musikerinnen. Eine Tragödie, eine Inszenierung, die zumindest eine gewisse Nachdenklichkeit zurücklässt.

Preisverleihung für das "Opernhaus des Jahres"
Foto: H.boscaiolo

Im Anschluss an die Premiere wurde der Oper Frankfurt von der Fachzeitschrift Opernwelt der Titel „Opernhaus des Jahres“ zum insgesamt achten und zum dritten Mal in Folge verliehen. Dazu kamen die Preisverleihungen des Chores der Oper Frankfurt und der Regie zu Verdis Oper Aida von Lydia Steier sowie des Tenors, John Osborn.

Herzlichen Glückwunsch von dieser Stelle.



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