Freitag, 15. November 2024

Tanzfestival Rhein Main 2024

Mont Ventoux, Choreographie des spanisches Kor´sia Kollektivs Mattia Russo & Antonio de Rosa, Staatstheater Wiesbaden, 14.11.2024


Kor´sia: Mont Ventoux  (Foto: Marta Alperi)

Ein Aha-Erlebnis

Eine Tanzperformance mit gewaltigem geistigen Hintergrund sollte diese spanische Kompanie von neun Tänzerinnen und Tänzern (4 Frauen, 5 Männer) dem Publikum im vollbesetzten großen Haus des Wiesbadener Staatstheaters bereithalten. 

Basis der außergewöhnlichen Choreographie war nämlich das gleichnamige Buch Francesco Petrarcas (1304-1374), ein italienischer Dichter und Geschichtsschreiber, der im April 1336 den Mont Ventoux in der Provence mit seinem Bruder bestieg (damals eine außergewöhnliche Leistung, heute lediglich noch für die Radfahrer der Tour de France) und auf dem Gipfel ein Aha-Erlebnis der besonderen Art hatte: „Und es gehen die Menschen hin, zu bestaunen die Höhen der Berge … und die Bahnen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst“ (aus den Confessiones des Augustinus, X 8).


Kor´sia: Mont Ventoux  (Foto: Marta Alperi)

Mittelalter – Neuzeit – Jetztzeit

Eine bewusstes Naturerlebnis Petrarcas sollte es sein, das ihn überzeugte, die Welt nicht mehr als Feind zu empfinden, als feindliche Zwischenstufe zur Jenseitigkeit, sondern als ästhetischen eigenen Wert. Damit verbunden ist seine neue Sichtweise des Menschen in dieser „Landschaft“, auch er bekommt seine Bedeutung, erkennt sich selbst, wird sich seiner Bedeutung als Individuum bewusst.

Petrarca greift damit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts voraus. Auch wenn er vielleicht gar nicht den Berg bestiegen hat (es gibt keine historischen Belege), gilt doch dieses Naturerlebnis als kulturhistorischer Schlüsselmoment an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit.

Die Idee von Kor´sia (gegründet 2015 in Madrid) ist es, diese Selbsterkenntnis des „Alpinisten“ auf die heutige Weltlage zu übertragen. Die beiden Gründer der Kompanie Mattia Russo & Antonio de Rosa sind der Auffassung, dass diese Erkenntnis Petrarcas heute noch wirksam sei. 

Siebenhundert Jahre und kein bisschen weiser? Ihre Idee ist es zumindest, diese Besteigung als Metapher des Humanismus zu benutzen, des schwierigen Weges vom Dunkel zum Hellen, oder von der Unwissenheit, den Fesseln der Vergangenheit hin zur Menschlichkeit. Zur Aufklärung, die heute infrage gestellt ist. Dazu Kor´sia: „Die bisherigen Strukturen unserer Gesellschaft lösen sich auf und wir werden Zeuge des Wandels in eine ungewisse Zukunft.“

Kor´sia: Mont Ventoux  (Foto: Marta Alperi)

Idee und Realisierung

Die Choreographen arbeiteten zur Realisation dieser Idee mit neun Tänzerinnen und Tänzern zusammen. Dazu entwickelten sie eine spezielle Dramaturgie (Agnès Lopes-Rio), ergänzt durch eine eigene Szenographie mit Musik von Alejandro Da Rocha und Raquel Tort Vázques (Gesang) sowie einem Kostümdesign von Luca Guarini

Sehr professionell und innovativ alles, wird diese Formation doch großzügig unterstützt von diversen Geldgebern, darunter vor allem die Accion Cultural Espaňola, ein staatliches Programm für die Internationalisierung der spanischen Kultur (PICE). Neben zahlreichen Auszeichnungen arbeitet diese Formation auch mit der Tanzplattform Rhein Main und dem Hessischen Staatsballett eng zusammen.


Kor´sia: Mont Ventoux  (Foto: Marta Alperi)

Sechs Abschnitte – vom Dunkeln zum Hellen  

Die Performance beginnt mit einem Rauschen. Stürmischer Wind scheint durch alle Ritzen zu dringen, die Bühne ist verdunkelt, man sieht eine viergeteilte Glaswand zunächst von einem Vorhang geschlossen, der sich langsam öffnet und kriechende Tänzer sichtbar macht. Alles ist fließend und diffus. Langsam werden zunächst vier Paare sichtbar, die scheinbar unkontrollierte Bewegungen zur bruitistischen Musik machen. Im Hintergrund wird ein Gebirge sichtbar, eher abstrakt-kubistisch.

Der zweite Abschnitt lässt einen Leiterträger, der sich zeitlupenmäßig hinter der Scheibe bewegt, erkennen. Vor dem Glasaufbau tanzen, ja kämpfen die Paare gegeneinander, während die extreme Techno Musik, wie Maschinengewehre rattert, mit gefühlten 140 Beats. Die Bewegungen der Tänzer sind hektisch, aber kontrolliert bis akrobatisch.

Im dritten Abschnitt wird das Kampfgeschehen fortgesetzt. Großartige Zweikämpfe werden simuliert und durch stroboskopische Lichteffekte verfremdet. Dabei steigert sich die Musik bis zum elektronischen Unwetter. Die Welt ist in Gefahr. Die Tänzer wechseln ihre Kostüme, die insgesamt schlicht und vor allem dem extremen, höchst anspruchsvollen Tanz dienen.

Ein Ritter erscheint hinter der Fenster Fassade, das sich immer als Trennwand zwischen Kontemplation, Idee, oder auch als Schein hinter, und Sein vor der Glaswand entpuppt. Der Ritter wird seiner Rüstung entkleidet. Erster Gesang wird im geräuschhaft lauten Techno-Wirrwarr hörbar und die Szene wechselt.

Im vierten Abschnitt scheint denn auch langsam mehr Lebensfreude aufzukommen. Man hüpft und freut sich des Lebens. Schattenhaft sind die Bewegungen, und Klangstäbe wie Keyboard schälen sich aus der Geräuschmasse. Jetzt scheint der Berg bestiegen zu sein, denn eine Tänzerin erklimmt die Leiter, wird von allen gehalten, stürzt aber trotzdem in die Tiefe. Sie liegt auf dem Boden, alle verlassen die Bühne.


Kor´sia: Mont Ventoux  (Foto: Marta Alperi)

Wendepunkt – Erkenntnis

Ein Wendepunkt? Die große Erkenntnis wohl. Hier ausgedrückt durch die Seele der Abgestürzten, denn ihr Körper verlässt die Bühne. Ein Metapher für die Trennung von Geist und Körper, im Sinne von Descartes, oder eine der Bewusstwerdung von Mensch und Natur im gleichberechtigten Zusammenspiel? Großartig hier die sehr langsamen und bestens kontrollierten Bewegungen der Solotänzerin, aber auch denen der anderen, die wieder die Bühne betreten.

Der fünfte Abschnitt führt wieder zurück zum Anfang, zumindest musikalisch. Wieder stürmische Geräusche, aber im Hintergrund tritt ein gewaltiges Bergmassiv zutage. Der Mont Ventoux ist es nicht, eher der Mont Blanc. Aber sei´s drum. Auch die Sonne scheint, und erhellt das bis dahin doch sehr düstere Ambiente ein wenig. 

Man tanzt in langsamem kontrollierten Tempo, während hinter dem Glas ein Betrachter das Geschehen verfolgt, mal stehend, mal sitzend, mal liegend. Denn das Massiv versinkt und lässt die Trennwand langsam nach hinten fahren. Die gesamte Bühne wird freigeben.


Kor´sia: Mont Ventoux, Tänzer beim Schlussapplaus 
(Foto: H.boscaiolo)

Viele Fragen offen

Der Schlussabschnitt, gut 12 Minuten lang, lässt alle neun Tänzer im Schattentanz zurück. Wie in einem Scherenschnitt Film bewegen sie sich einzeln auf der Bühne. Ein bisschen psychodelisch, wenn nicht die Musik einen ganz anderen Charakter hätte. Sie besteht aus einem motivischen Dreitongesang, der, elektronisch verfremdet, sich bis zu einem Dialog ausweitet. Stroboskopische Lichteffekte und ein wenig Farbenspiel machen die Szene zu einer Apotheose.

Im Kreuzstand, der zusätzlich viele Minuten andauert, kulminiert die Musik zu einem Berg-Echo. „Der Berg ruft“, kommt einem in den Sinn. Aber das langsame Pochen und die Verdunkelung der Bühne lassen eher Fragen zurück: "Der Vorhang fällt, viele Fragen offen!“


Kor´sia: Mont Ventoux, Tänzer, Mattia Russo &Antonio de Rosa
beim Schlussapplaus  (Foto: H.boscaiolo)

Ein innovatives Experiment

Der Beifall ist sehr freundlich, aber nicht ekstatisch, wie bei vielen anderen Tanzperformances.

Eine gewagtes Geschichtsnarrativ, denn im eigentlichen Sinne ist es fiktiv und diente wohl Petrarca dazu, sein Bekehrungserlebnis, ähnlich wie das von Jean Jacques Rousseau oder Paulus von Tarsus, zu ver (sinn)bildlichen. So etwas auf die Tanzbühne zu übertragen ist an sich schon ein schwieriges Unterfangen, geht es doch im Wesentlichen um eine Erkenntnis, eine geistige Zustandsbeschreibung.

Dazu reichten die Mittel dieser  Performance nicht aus. Die Musik war insgesamt wenig differenziert, zu laut und selten der Situation angepasst. Es sollte ja vom Dunkel zum Lichte gehen, von der Unwissenheit zur Erkenntnis. Aber auch das blieb im Dunkeln. Ausgenommen im letzten Abschnitt spielte sich die gesamte Handlung im schemenhaften Halbdunkel ab, überlagert von dichten Nebelbildungen. Selbst das versteckte Sonnenlicht verschwand unter den Dunstschwaden.


Kor´sia: Mont Ventoux  (Foto: Marta Alperi)

Tänzerisch waren alle Akteure bestens ausgebildet und zeigten perfekte Kampfszenen, akrobatische Nummern, gekonnt-dynamische Soloeinlagen und herrlich-synchrone Gruppenchoreographien.

Eine innovative, experimentelle abendfüllende Performance war es allemal und dafür allein gebühren Kor´sia und dem Team absolute Anerkennung.


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