Budapest Festival Orchestra (BFO), Leitung: Iván Fischer, Violine: Renaud Capuçon, Alte Oper Frankfurt, 26.01.2025
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Budapest Festival Orchestra (Foto: Website) |
Weitsicht, Vielseitigkeit und Innovation
Sicher ist das Budapest Festival Orchestra kein unbekannter Klangkörper, wie man zunächst vermuten könnte, hat er es doch seit seiner Gründung 1983 durch Iván Fischer (1951) und dem weltberühmten Pianisten Zoltán Kocsis (leider 2016 verstorben) zu Weltruhm gebracht. Er ist seit 40 Jahren das Steckenpferd ihres Gründers und musikalischen Leiters, der sein Metier unter anderem bei Nikolaus Harnoncourt erlernte, aber vor allem durch Weitsicht, Vielseitigkeit und innovative Konzertformate auffällt.
Seine Preise und Ehrungen aufzuzählen erübrigt sich an dieser Stelle. Aber das Programm, das er in die vollbesetzte Alte Oper Frankfurt mitbrachte, hatte es in sich.
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Iván Fischer (Foto: Website) |
Morgengruß aus dem Garten
Gleich zu Beginn begrüßte das BFO das Publikum mit einem Ständchen von Fanny Hensel (1805-1847), der begabten Schwester ihres berühmten Bruders Felix Mendelssohn Bartholdy. Ein Morgengruß op.3. Nr.4 (1846), à capella vorgetragen von den Mitgliedern des Orchesters.
Fanny Hensel, die talentierte und innig geliebte Schwester konnte nie ihre musikalischen Fähigkeiten beruflich nutzen. Sie schrieb zwar eine nicht geringe Anzahl kleinerer Kammermusikwerke und Chorstücke, die sie allerdings erst spät verlegen ließ. So ist der etwa 3-minütige Morgengruß, die Nummer 4 aus ihren sechs Gartenliedern bereits in ihrer Jugend geschrieben, man weiß es nicht so genau, und erinnern in ihrem tief romantischen Duktus doch stark an Franz Schubert und Robert Schumann, ihre Zeitgenossen, ohne allerdings von besonderem Augenmerk zu sein.
Die Instrumentalisten des Orchesters jedenfalls hatten ihren Spaß und ließen das verblüffte Publikum „in glitzernden blitzenden Gauen, wie selig, den Morgen zu schauen“ aufhorchen.
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Renaud Capuçon (Foto: Simon Fowler) |
Neue, moderne Interpretation
Felix Mendelssohn Bartholdys (1809-1847) erstes und einziges Violinkonzert e-Moll op. 64 (1838/45) folgte gleich darauf mit keinem Geringeren als Renaud Capuçon (*1976) an der Guarneri „Panette“ Violine, Baujahr 1737. Oft gespielt, zuletzt am gleichen Ort von Augustin Hadelich mit dem hr-Sinfonieorchester, hatte sich das BFO und der Solist eine ganz neue und eigenwillige Herangehensweise ausgedacht.
Nicht voller romantischem Herzschmerz sollte diese Interpretation ausfallen, sondern eher modern, mit zupackendem Strich, wenig Innerlichkeit und ausschweifenden Phrasen, dafür mehr Klarheit und männliche Ausdruckskraft.
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Renaud Capuçon, Budapest Festival Orchestra (BFO) Foto: H.boscaiolo |
Wie ein Gedicht aus modernen Zeiten
Capuçon bekam vom sparsam agierenden Dirigenten viele Freiheiten, die er allerdings in bester dialogischer Manier mit dem Orchester realisierte.
Auch das Lied ohne Worte im Andante des zweites Satzes geriet schnörkellos, dafür aber mit wunderschönen Höhen im herrlich ausgebreiteten Klangraum des großen Saals der Alten Oper Frankfurt. Wie ein Gedicht aus modernen Zeiten.
Das abschließenden Allegretto, zweigeteilt in non troppo und molto vivace, leitete man mit einer gedanklichen Abwägung ein. Eine Art Fragestellung. Wie soll es weitergehen, um dann in ein höchst lebendiges, von 16tel Triolen umrahmtes, So-will-ich-weitermachen einzutauchen.
Absolute Geschwindigkeits-Pizzikati, aber ohne Hast, wurden von Hörnern, Holz- und Blechbläsern umrahmt bis zu einem herausbrechenden Feuerwerk der Tremoli und langen Triller.
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Iván Fischer, Renaud Capuçon, Budapest Festival Orchestra Foto: H.boscaiolo |
Neue Seelengebung
Bekanntlich ging Mendelssohn Bartholdy lange mit der Idee dieses Violinkonzertes schwanger, beriet sich seit Ende der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts mit seinem Freund und Violinisten, Ferdinand David (1810-1873), bevor er 1844 mit seiner Idee ins Reine kam und die Uraufführung im Leipziger Gewandhaus mit Ferdinand David als Solisten von großem Erfolg beschieden war.
Die Interpretation des gestrigen Abends gehört zu den herausragenden dieses Violinkonzerts. Eine wunderbare innovative Auseinandersetzung mit einem viel gespielten Pflichtstück eines jeden Geigenvirtuosen, aber mit einer ganz neuen Seelengebung. Großartig, wie ein Romantiker in die Welt der Post-Postmoderne, ohne Wenn und Aber, überführt werden kann
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Renaud Capuçon, Budapest Festival Orchestra Foto: H.boscaiolo |
Ganz bei sich
Renaud Capuçon ließ sich eine Zugabe nicht nehmen. Dazu wählte er die Daphne Etüde von Richard Strauss, aus dessen gleichnamiger Oper. Ein gut zweiminütiger Leckerbissen ohne Abschweifungen in entfernte Gefilde, sondern ganz bei sich. Wenige Töne, die es allerdings in jedem einzelnen Fall in sich hatten. Renaud Capuçon allein war schon diesen Abend wert.
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Iván Fischer, Budapest Festival Orchestra Foto: H.boscaiolo |
Nichts geht ohne den anderen
Jetzt zum Höhepunkt dieses bis dahin schon außergewöhnlichen Konzertabends. Die 5. Sinfonie cis-Moll (1901/02) von Gustav Mahler (1860-1911).
Wer glaubt, man habe bereits alles schon gehört, der wird bei dieser Interpretation des BFO eines Besseren belehrt. Bekanntlich ist dieses gut 70-minütige Monumentalwerk in drei große Abschnitte mit insgesamt fünf Sätzen aufgeteilt. Monumental auch seine Besetzung mit, unter anderem sechs Hörnern, vier Trompeten, drei Posaunen, Basstuba, riesigem Schlagwerk, vier- und dreifach besetzten Holzbläsern, Kontrafagott und Bassklarinette.
Gleich zu Beginn der Generalmarsch der österreich-ungarischen Armee, eine Trompetenfanfare, die durch Mark und Bein geht. Überhaupt ist die Klangqualität des Orchesters umwerfend. Iván Fischer und seine Mitstreiter, so möchte man sie nennen, denn jeder einzelnen Instrumentalist ist ein Könner seines Metiers, und jeder scheint in seinen Part verliebt zu sein, sind wie siamesische Zwillinge zusammengewachsen. Nichts geht ohne den anderen.
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Iván Fischer, Budapest Festival Orchestra Foto: H.boscaiolo |
Gepflastert mit bildhaften Mosaiken
Fischer braucht als Partitur-Grundlage lediglich eine Taschenbuchausgabe auf seinem Pult, denn er hat jede einzelnen Note dieses Werkes im Kopf. Minimalistisch bewegt er sich, aber mit gewaltiger Ausdrucksstärke und vorausschauender Weitsicht.
Allein der erste Satz dauert fast 35 Minuten, ist aber gepflastert mit bildhaften Mosaiken und spannungsgeladen bis in die letzten Muskelfasern. Wie recht hat doch Mahler, wenn er seinen neuen kompositorischen Weg folgendermaßen erläutert: „Es bedarf nicht des Wortes, alles ist rein musikalisch gesagt.“
Ein „verdammter Satz“
Das Scherzo aus der zweiten Abteilung hat es in sich. Stark Horn-lastig angelegt, dominiert in diesem der dreiviertel Takt des Walzers, eines Gesellschaftstanzes, dessen Zenit bereits im frühen 20. Jahrhundert überschritten schien. Tatsächlich ist es ein Abgesang, ein bitterböses zu-Grabe-tragen einer untergehenden höfischen Kultur. Dieser Abschnitt gerät insofern schräg und ironisch, ja mitunter sarkastisch.
Die Pizzikati Begleitungen erinnern an Gitarrenspieler auf den Gassen und die Hornrufe? – man weiß es nicht – rufen sie zur Beerdigung auf, oder vielleicht doch zu einem Tänzchen? Perfekt gelungen möchte man zu diesem „verdammten Satz“ mit einer „langen Leidensgeschichte“ (O-Ton Mahler) festhalten, denn dieses Scherzo, in dem schlussendlich Motive des Trauermarsches aus der ersten Abteilung wieder auftauchen, ist von ungeheurer Eindringlichkeit, von ausnehmend beeindruckenden Dialogen der Orchestergruppen und dazu von einer Spannung getragen, die kaum ruhig sitzen lässt.
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Iván Fischer, Budapest Festival Orchestra Foto: H.boscaiolo |
„Etwas betrübt“
Das berühmte Adagietto, allseits bekannt aus Luchino Viscontis Soundtrack Tod in Venedig (1971) kommt dann wie aus dem Nichts. Mit Harfenklängen, sensiblen Streicher Einlagen. Film ab möchte man am liebsten sagen, denn die elfminütige Szene ist zum Weinen schön und lässt Liebesszenen von größter Intensität am geistigen Auge vorbeiziehen (Bekanntlich schrieb Mahler dieses Adagietto für seinen Geliebte Alma).
Eine Langsamkeit, eine Entrückung, die zum Träumen einlädt, aber auch größte Aufmerksamkeit verlangt. Dieser Satz gehört unzweifelhaft zum besten, was Mahler jemals komponierte, und selbst Richard Strauss, sein größter Kritiker, musste zugeben, dass ihn allein dieser Satz „etwas getrübt“ habe, womit er selbstverständlich sein Gefallen zum Ausdruck bringen wollte.
Hymne an Gott den Allmächtigen
Furios dann das abschließende Rondo. Zunächst mit einer illustren Waldatmosphäre, dem ein Fugato folgt. Turbulent geht es allemal in dieser Schluss Apotheose zu. Viel Reminiszenzen zum ersten und zweiten Satz, mal Walzer, mal Choral, mal Trauermarsch, aber alles in allem ein Kaleidoskop durch die gesamte Komposition, in dem jeder einzelne Instrumentalist, jede Gruppe und überhaupt das gesamte Orchester höchst gefordert ist.
Was für eine Empathie, welche Hingabe, welche Spielfreude steckt in diesem Budapester Festival Orchestra? Wie hat Iván Fischer diesen Klangkörper geformt, der perfekter kaum harmonieren kann? Man findet kaum noch Worte des Lobes.
Diese fünfte Sinfonie gehört zum besten, was der Schreiber dieser Zeilen jemals gehört hat. Sie ist eine Offenbarung und der mitreißende Taumel des Schlusschorals, eine Hymne an Gott den Allmächtigen, steckt noch viele Stunden nach der Aufführung in positivem Sinne in den Knochen.
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Iván Fischer, Budapest Festival Orchestra Foto: H.boscaiolo |
Ein Konzertabend der Superlative, mit einem wunderbaren Violinisten Renaud Capuçon, einem genialen musikalischen Leiter, Iván Fischer, und einem Wahnsinns Budapest Festival Orchestra.
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