Samstag, 25. Januar 2025

hr-Sinfonieorchester, musikalische Leitung: Cornelius Meister, Klavier: Pierre-Laurent Aimard, Alte Oper Frankfurt, 24.01.2025


Pierre-Laurent Aimard (Foto: Marco Borggreve)

Große Ereignisse der Musikgeschichte

Die „Große Reihe“ des hr-Sinfonieorchesters hatte große Ereignisse der Musikgeschichte zu bieten: den 100. Geburtstag von Pierre Boulez, den 150. Geburtstag von Maurice Ravel, sowie Wendepunkte in der Musikgeschichte, wie die von Ludwig van Beethovens „Eroica“ Es-Dur (1803), Ravels Miroirs (1905) oder gar die Douze Notations pour piano e pour orchestre (1945/1978/1997) von Pierre Boulez.

Alles Meilensteine der musikalischen und kompositorischen Entwicklungen, die bis heute inspirierend und vor allem auch belebend wirken.


Cornelius Meister (Foto: Matthias Baus)

Zwei ausgewiesene Fachleute

Dazu hatte man den Ausnahmepianisten Pierre-Laurent Aimard (*1957) geladen, der nicht besser hätte ausgewählt werden können. Arbeitete er doch lange Jahre mit Pierre Boulez (1925-2016) zusammen. Auch zählt er bekanntermaßen zu den wenigen Pianisten auf diesem Globus, die sich in der zeitgenössischen Musik zuhause wissen.

Cornelius Meister (*1980), ebenfalls mit Pierre Boulez bekannt, assistierte er ihm doch 2004 auf den Bayreuther Festspielen, übernahm das Dirigat, und wer könnte gerade für diesen Konzert-Abend besser ausgewählt worden sein, als dieser aufstrebende junge Künstler, der am gestrigen Abend sein Debüt für das hr-Sinfonieorchester gab.


hr-Sinfonieorchester (Foto: H.boscaiolo)

Ein Schlaflied des Ozeans

Alles also in bester Butter. Alles bestens vorbereitet?

Gleich zu Beginn wurde der vollbesetzte große Saal der Alten Oper mit Maurice Ravels (1875-1937) Orchesterfassung Une barque sur l´océan (1905) aus dessen Miroirs für Klavier Solo konfrontiert. Es ist das dritte seines fünfteiligen Zyklus (dazu aber später). 

Ein äußerst schwieriges, polyrhythmisches ca. 7-minütiges Werk, das allein auf 140 Takten 36 Taktwechsel erfährt. Die Ausführung erfordert flüssige Beweglichkeit und komplexe Arpeggien, die zwischen Quinten, Quarten und Sekunden schweben. Es erinnert an ein Schlaflied des Ozeans, der die Barke im Wellengang auf und ab schwingen lässt.


Pierre-Laurent Aimard, hr-Sinfonieorchester
Foto: H.boscaiolo

Felder großer Ideen

Dann stellt Pierre-Laurent Aimard auf einer vorgelagerten Bühne dem Publikum die Douze Notations pour piano von Pierre Boulez vor. Es sind zwölf Miniaturen, die in jeweils zwölf Takte aufgeteilt sind. Deutlich sind Spuren der Schönbergschen Zwölftontechnik herauszuhören. Sehr lebendig zwar, aber stark pointilliert mit Reihencharakter. 

Boulez verstand diese Aphorismen als work in progress, erinnerte sich gut 30 Jahre nach ihrem Entstehen wieder daran, und erweiterte fünf von ihnen zu orchestralen Versionen von bis zu 111 Takten Länge. Er gab selbst zu bedenken, dass er dabei an seine Erfahrung mit Richard Wagners Orchestrierung gedacht habe. 

Denn just zu diesem Zeitpunkt (1976-1980), arbeitete er mit seinem Freund Patrice Chéreau an der Ring-Inszenierung. Die Idee, Wagners Orchestrierung zu Vorlage zu nehmen, sei ihm wie die Öffnung eines neuen Feldes erschienen.


Cornelius Meister, Pierre-Laurent Aimard, hr-Sinfonieorchester
Foto: H.boscaiolo

Ein unglaublicher Klangteppich

Die fünf Orchesterstücke beziehen sich auf die Aphorismen I bis IV und werden noch einmal 1997 mit der Siebenten erweitert. An diesem Konzertabend wählten Aimard und das Orchester die Reihenfolge folgendermaßen: I, VII, IV, III, II. Eine von vielen Lösungswegen, die vor allem auf den Effekt abzielt, denn II gehört mit zu den auffallendsten Teilen dieses Zyklus und wird in der Regel immer am Schluss gespielt.

Also, Aimard führte pianistisch jeweils ein, und das Orchester folgte. Ein gut 30-minütiger Vorgang, der alles vom Orchester abforderte. Darunter drei Harfen, acht Perkussionisten, sechs Hörner und drei Xylophone. Ein Apparat der Sonderklasse, aber auch ein unglaublicher Klangteppich, der den Raum des großen Saales bis in die letzten Winkel bebilderte.

Bemerkenswert die Streichergruppen, die schwierigste Partien zu bewältigen hatten. Der Dirigent, Cornelius Meister, motivierte mit präsenter Körpersprache. Und Aimard spielte in gelassener Hingabe schwierigste Rhythmen, komplexe Ostinati, Reihenabläufe, Clusterverdichtungen und last but not least, Tritonus-Sprünge, verbunden mit Quint und Quart Intervallen. 

Eine selten gehörte Conclusio einer schillernden Figur, die Boulez nun einmal war. Seine Werke eröffnen noch heute Felder großer Ideen.


Cornelius Meister, Pierre-Laurent Aimard,
hr-Sinfonieorchester

Foto: H.boscaiolo

Leitbild einer aufgeklärten Gesellschaft

Nach einer ausgedehnten Pause, stand die Beethovensche „Eroica“, die Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op.55, auf dem Programm. Ein revolutionäres Werk, das viele Deutungen erfuhr, aber nichtsdestotrotz bis heute zu den Ausnahmekompositionen Beethovens gehört. Warum das?

Die Eroica gehört in seine heroische Periode. Beethoven verarbeitet darin sein Ballett die Geschöpfe des Prometheus (1801), gedacht als Leitbild einer zukünftigen aufgeklärten, freien Gesellschaft. Napoleon Bonaparte spielt eine Rolle, als Befreier oder als Unterdrücker, auch der Trauermarsch, der marcia funebre, des zweiten Satzes, der emphatische Tonfall, die Monumentalität der Ecksätze, wie auch die extreme Fugentechnik, das tiefe Leid und die derbe Heiterkeit des Scherzos, all das hat zu endlosen Diskussionen und Interpretationen geführt, die bis heute die Eroica begleiten.

Cornelius Meister, hr-Sinfonieorchester
Foto: H.boscaiolo

Ein atemloser Hero

Warum der Dirigent das Orchester extrem verkleinerte, gerade mal auf knapp 60 Instrumentalisten, wird sein Geheimnis bleiben. 

Man kann gleich aber vorausschicken: Er zog das Ding durch, als gäbe es kein Morgen. Sehr flott, fast gehetzt der lange erste Kopfsatz mit seinen fast 700 Takten. Cornelius Meister pochte und schlug die Akzente förmlich auf den Pult. Der Trauermarsch, auch er alles andere als in gemäßigten Schritten, endete zwar in einem Fugato, aber die Einsätze ließen zu wünschen übrig, auch schlichen sich hier einige Fehler ein, die nicht hätten sein dürfen.

Das Scherzo litt ebenfalls an unpräzisen Einsätzen des Dirigenten und glitt mitunter in ein wildes Klangchaos aus. Das Finale schließlich ließ den Akteuren kaum Luft zum Atmen. Atemlos rannte der Dirigent durch die Partitur und trieb das sehr willige Orchester an die Grenzen seiner Möglichkeiten. 

Zwar ließ das ausgedehnte poco Andante noch einmal ein choralartiges Flair zu, um dann aber endgültig in rasendem Presto den Satz zu beenden.


Eroica – kein Pausenfüller

Ja die Eroica. Sie ist bis heute ein Werk, das Geschichte geschrieben hat. Aber man muss sie bis in die feinsten Adern ihrer Tonfolgen ernst nehmen, sonst wird sie zu einem Gassenhauer, zu einem Pausenfüller mit Konsumcharakter. Cornelius Meister hätte hier ein wenig mehr Sorgfalt walten lassen müssen.


Cornelius Meister, hr-Sinfonieorchester
Foto: H.boscaiolo

Ein Leckerbissen nicht für alle

Nachklang: Tatsächlich erschien Pierre-Laurent Aimard nach kurzem frenetischen Beifall des Publikums auf der Vorderbühne und trug noch einmal Ravels Miroirs mit seinen fünf Abschnitten vollständig vor. Nach fast dreistündiger Konzertdauer, ein Leckerbissen, der allerdings nicht unbedingt von allen angenommen wurde. Viele Konzertbesucher machten sich auf den Heimweg.

Dennoch. Aimard spielte zwar vom Blatt, aber dafür diese spätromantische, von impressionistischer Harmonik durchwirkte Komposition mit tiefer Hingabe.


Autobiographische Skizze

Diese fünf Spiegelbilder hat Ravel seinen Freunden aus der Künstlergruppe Apachen (im Jahre 1900 gegründet) gewidmet. Eine Art autobiographische Skizze, die offensichtlich seine Zuhörer beim erstmaligen Hören aus der Fassung gebracht haben soll. Tatsächlich beschreibt er wie auf einem Gemälde den Flug eines Nachtfalters (Noctuelles), einen nächtlicher Spuk durch irgendwelche Katakomben, oder imitiert die melancholischen Töne eines sterbenden Vogels (Oiseaux tristes). 

Bekannt bereits die Barke auf hoher See (das orchestrale Eingangsstück dieses Konzertabends). Der vierte, wohl anspruchsvollste Part des Zyklus´, Alborada del gracioso (Morgenlied des Narren) mit sehr ausgeprägter Pedalierung und extremen rhythmischen Wechseln, klingt wie ein Flamenco, es fehlen nur noch Gitarre und Tänzerinnen. Absolut beeindruckend der Schluss, La Vallée des cloches (das Tal der Glocken). Ein bisschen vermeint man Franz Liszts Campanella herauszuhören.


Cornelius Meister, hr-Sinfonieorchester
Foto: H.boscaiolo

Große Anstrengung – überfrachtetes Programm

Aimard ist absolut im Grenzbereich seines Können angekommen. Tief konzentriert spielt er dieses gut 30-minütige Werk mit großer Anstrengung, die ihm ins Gesicht geschrieben steht. 

Miroirs ist einfach mehr als nur ein Zyklus. Es ist die Einleitung eines Wendepunkts in Ravels kompositorischer Praxis. Eine neue Musiksprache, so der Autor selbst, wird durch Miroirs eingeleitet. Zeitweise grenzt sie ans atonale, frei tonale; aber auch seltene Harmonien werden entdeckt und in neue Zusammenhänge gebracht.

Ein langer Konzertabend geht zu Ende. Mehr als drei Stunden harrt das Publikum aus und gibt dem wunderbaren Pianisten seine Reverenz. 

Pierre Laurent Aimard ist eine Bereicherung der Pianisten Gilde, er gehört in den Parnass der Besten seines Metiers. Leider war das Programm überfrachtet. Man wollte alles, und erreichte leider nur Einiges. Dennoch, ein Abend der unvergesslich bleiben wird.

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