Montag, 3. Februar 2025

Guercœur, Tragédie en musique in drei Akten von Albéric Magnard (1865-1914), Premiere und Frankfurter Erstaufführung, 02.02.2025

Domen Križaj (Guercœur)
alle Fotos von: Barbara Aumüller

Einzigartige Entdeckung“

Wer kennt Guercœur, wer Albéric Magnard? Selbst in seinem Heimatland Frankreich gehört er nicht zu den Rennern, ebenfalls ist sein Oeuvre mit gerade einmal 20 Werken, darunter drei Opern, nicht gerade üppig. Und dennoch erscheint er als die „einzigartige Entdeckung“ der Frankfurter Oper. Wer also ist Albéric Magnard (1865-1914)? Was macht ihn so außergewöhnlich in der Opernwelt. In diesem Zusammenhang kommt man schnell zu seinen Lebensdaten und Einstellungen.


Fin de Siècle

Magnard war zeitlebens ein Einzelgänger, politisch unerschrocken, ein Kämpfer für demokratische Rechte. Er setze sich für die Emanzipation der Frauen und ihr Wahlrecht ein, er engagierte sich in der Dreyfus Affäre (zwischen 1894-1906) für den Angeklagten, kritisierte den „Boulangerismus“ (benannt nach dem General Georges Boulanger, 1837-1891), eine totalitäre Richtungsentwicklung im französischen Bürgertum des Fin de Siècle, orientierte sich an den damals bekannten Philosophen Ernest Renan (1823-1892) und Henri Bergson (1859-1941), die einerseits religionskritisch, andererseits fortschrittskritisch, Stichwort Elan vital bei Bergson, das ausgehende wie das beginnende Jahrhundert unter die analytische Lupe nahmen.


Claudia Mahnke (Giselle) und Domen Križaj (Guercœur)

Ein Frankfurter Ereignis

Möglicherweise gehörte Magnard heute zu den bekannten Komponisten, wenn er nicht Opfer des 1. Weltkriegs geworden, er bei einem Angriff deutscher Soldaten auf sein Anwesen getötet und sein dort gesammeltes Werk rücksichtslos verbrannt worden wäre.

Darunter auch der erste und dritte Akt von Guercœur (1897-1901), das in der Folgezeit nahezu 30 Jahre in Vergessenheit geriet, von seinem Freund und engen Mitstreiter, Guy Ropartz (1864-1955), nach erhaltenen Klavierauszügen rekonstruiert und im Jahre 1931 erstmals in der Pariser Oper Palais Garnier uraufgeführt wurde. Dann aber erst wieder 2019 in Osnabrück und 2024 in Straßburg eine weitere szenische Aufführung erfuhr.

Vor diesem historischen Werdegang der Oper ist also die Erstaufführung von Guercœur in der Frankfurter Oper ein wirkliches Ereignis im noch jungen Jahr 2025.

Anna Gabler (Verité) und Domen Križaj (Guercœur)

Guercœur, das Kämpferherz

Worum geht es?

Guercœur, übersetzt vielleicht mit Kämpferherz, ist früh verstorben und im Himmel völlig unzufrieden. Er will leben. Wagners Tannhäuser 1. Akt lässt grüßen. Nichts regt sich, nichts bewegt sich im Jenseits. Alle Toten sind ohne Erinnerung, ohne Zeit und Raum. Die vier Gottheiten, Bonté (die Gütige), Verité (die Wahrhaftige), Beauté (die Schöne) und Souffrance (die Leidende) sind metallic bunt gekleidet, ein wenig bonbonhaft, und unterscheiden sich von den in weißen Kutten gekleidete Toten. Guercoeur speziell in einem Judoanzug.

Verité und Souffrance haben ein Einsehen und schicken Guercœur ins menschliche Leben zurück, nicht ohne Hinweis darauf, dass er das Leiden des Lebens erfahren solle.


AJ Glueckert (Heurtal) und Domen Križaj (Guercœur; sitzend)

Vergebung – Aufruhr – Mord

Der ausgedehnte zweite Akt konzentriert sich auf Giselle, Heurtal und Guercœur. Ein Liebesdrama, das stark an Wagners Tristan und Isolde zweiter Akt erinnert. Großartige Szene im nachgestellten Kanzlerbungalow der ehemaligen Bonner Republik. Heurtal, der Ziehsohn Guercœurs hat sich in den vergangenen zwei Jahren nicht nur Giselles bemächtigt, sondern auch seine Machtgelüste und diktatorische Gesinnung zur Geltung kommen lassen. 

Während Guercœur von Frieden, Demokratie und Freiheit träumt, praktiziert Heurtal eine Sklavenhaltergesellschaft („ich glaube an die Sklaverei“) par excellence. Giselle ist ihm verfallen, weil jugendlicher und leidenschaftlicher, nicht so alt und gütig wie sein Vorgänger.


Guercoeur ist entsetzt, ruft verzweifelt: "Verrat!", entlässt aber seine Geliebte in die Freiheit („ich vergebe dir“) und widmet sich ab jetzt seiner eigentlichen, weltlichen Aufgabe: Freiheit, Frieden und Demokratie. Heurtal trifft ihn, glaubt in ihm eine betrügerische Erscheinung zu erkennen und sorgt dafür, dass der Aufruhr des Volkes (hier dem Sitzungssaal des Sicherheitsrats der UN angepasst, selbst ein russisches Außenminister-Lawrow-Double flaniert durch die Reihen) zur Ermordung seines Widersachers führt. Großartige, sehr realistische Kampfszenen.


AJ Glueckert (Heurtal; rechts Hände schüttelnd, mit Bart)
und Chor der Oper Frankfurt)

Hochmut kommt vor dem Fall

Guercœur stirbt ein zweites Mal, der Sitzungssaal zerbirst, zerfällt in seine Einzelteile, und übrig bleiben das Tor zum Himmel, die vier Gottheiten und der Hauptprotagonist. Er entschuldigt sich ob seines Hochmuts – ein melodischer Leckerbissen aus Berlioz´ Symphony fantastique begleitet diese Szenerie – und er fügt sich scheinbar der Zeit- und Raumlosigkeit wie des Vergessens.

Nebenbei bemerkt gibt es mehrere Malheure, weil die Einzelteile der herabgestürzten Balken sich gegenseitig verheddern und die Drehbühne dadurch ins Stocken kommt. Die Gottheiten finden nur mühsam ihren Weg. Ein wenig amüsant, aber eine Abwechselung in der langatmigen Schlusssequenz.


AJ Glueckert (Heurtal; auf dem Tisch stehend)
 und Domen Križaj (Guercœur; fallend),
Chor der Oper Frankfurt

Und täglich grüßt das Murmeltier“

Denn was jetzt folgt ist ein dick aufgetragener Abgesang auf die weltlichen, menschlichen Unzulänglichkeiten. Die Eitelkeit des Seins, der Stolz, die Begierde und die Machtgelüste werden wie ein Gebet, mit Orgelbegleitung à la Cesar Franck, vorgetragen. Verité besingt in Wagnerscher Rheingold-Manier das Ende der Erinnerung: „Schlaf im Schoße der Unendlichkeit, sei Duft und Gesang, vergiss Deine Erinnerung für immer.“

Das Kanzlerbungalow wird wieder Mittelpunkt des Geschehens. Die Toten in asch-weiß verbringen ihre Zeitlosigkeit im Stile der Filmkomödie aus den 1990er Jahren: Und täglich grüßt das Murmeltier, in der immerwährenden Wiederholung des Immer Gleichen. Dantes Inferno aus der Göttlichen Komödie lässt grüßen, nur jetzt im Himmel der Ewigkeit.

Guercœur jedenfalls ist todunglücklich und hasst das ihm aufgezwungene Schachspiel. Die Toten wiederholen Sisyphos-like ihre Tätigkeiten. Ein Akt, der kein Ende findet und in seiner ewigen Wiederholung zwischen Amüsement und Langeweile changiert.

Der Schlussruf des Chores aus dem Off: "Hoffnung!!!" wirkt wie ein Befreiungsschlag aus dem ewigen Einerlei und lässt das Publikum jubelnd zurück. Ein Jubel aber eher im Sinne Friedrich Nietzsches, der die Hoffnung als das Übelste aller Übel bezeichnet.


AJ Glueckert (Heurtal; mit Bart) und Chor der Oper Frankfurt)

Konzise – ganz Jahrhundertwende

Wieder einmal hat sich die Frankfurter Oper an eine Neuinszenierung gewagt, die es in sich hat. David Hermann (Regie) und sein Team um Marie Jacquot (musikalische Leitung), Jo Schramm (Bühne), Sibylle Wallum (Kostüme), Joachim Klein (Licht) sowie Mareike Wink (Dramaturgie) haben ein Zwischending von Oratorium (1.Akt), Mysterienspiel (3.Akt) und dramatischer Handlung (2. und erster Abschnitt des 3. Aktes) gezaubert, dass vor allem im Mittelteil (Guercœur, Giselle, Heurtal) Höchstspannung erzeugte, dafür aber im Schlussteil absolute Längen aufwies. Hier könnte man durchaus noch Kürzungen nachlegen, ohne den Inhalt der Oper zu entschärfen oder zu verfälschen.

Dennoch: Die Oper ist konzise gestaltet, sehr zeitnah auf die Bühne gebracht und durchaus mit aktuellen Bezügen versehen. Allerdings kommt das Volk, wie immer, nicht gut dabei weg. Es ist manipulierbar, sucht nach seinem Führer und lässt sich schamlos verführen. Magnard ist hier ganz französischer Citoyen des Fin de Siècle. Mehr auch nicht.


Dem Wagnerismus verfallen“

Der wohl vollständig erhaltene zweite Akt ist von außergewöhnlicher sprachlicher wie musikalischer Eindringlichkeit. Zwar lässt hier Wagners Tristan grüßen, überhaupt bringt Magnard mehrere Male schriftlich zum Ausdruck, dass er dem „Wagnerismus verfallen“ sei, aber gleichzeitig versteht er als Librettist und Komponist dieser Oper, eine eigene prosodische Musiksprache im Stile seiner damaligen Vorbilder wie Hector Berlioz, Cesar Franck und Henri Duparc zu entfalten. Seine Musik, das sei festgehalten, ist wunderbar auf seine Texte konzipiert, lässt zwar viele Analogien zu, aber das stört in keiner Weise.


Bianca Andrew (Bonté) und Domen Križaj (Guercœur)

Elan vital

Diese Oper muss man allein deshalb zu seinem Opus Magnum zählen, weil er darin, ähnlich wie sein Vorbild Richard Wagner, die philosophischen Fragen seiner Zeit auf die Bühne bringt. Zwar mit symbolistischer, katholizistischer und fortschrittsorientierter Denkweise, aber letztlich stellt er doch Fragen an das Leben, an das Zusammenleben in der Moderne, die heute noch aktuell sind: Wie wollen wir leben? In Freiheit, in Liebe, in Demokratie? Oder? Sicher ist der Elan vital das Lebenselixier des Fin de Siècle, glaubt er doch an den Fortschritt und die endgültige Erkenntnis des Lebenssinns.

Aber genauso ist hier auch der Misanthrop am Werk: Der, der an der Zukunft des Menschseins zweifelt, wie es Schopenhauer, ebenfalls von Magnard geschätzt, tat. So auch der lange Schlusstext, der gebetsmühlenartig immer wieder das Gleiche betont, die Unzulänglichkeit des Mensch-Seins, der lediglich in der Hoffnung auf Besserung verharren kann. Nicht gerade aufbauend, möchte man meinen.


Claudia Mahnke (Giselle) und Domen Križaj (Guercœur)


Ein Dreier, wie es besser nicht geht

Die Sängerinnen und Sänger agierten ausnehmend gut, um nicht zu sagen, perfekt. Allen voran Guercœur, gesungen und gespielt vom Bariton Domen Križaj, eine umfangreiche, in allen Lagen betörende Stimme. Dazu die Mezzosopranistin Claudia Mahnke als Giselle. Sie sang nicht nur hinreißend, sondern spielte ihre Leidens- und Hoffnungsrolle, ihre Liebe zu zwei Männern, die unterschiedlicher kaum sein können, so überzeugend, dass man glaubte, sich in einer psychologischen Sitzung zu befinden. Besser geht es nicht. 

Natürlich hat auch Heurtal seinen Beitrag dazu geleistet. Gesungen von Aj Glueckert in wunderschönem lyrischem Tenor, aber auch mit Verve, vor allem dann, wenn es um seine dunkle Seite, die des Tyrannen ging. Eine Dreierkonstellation, die sich Richard Wagner nicht besser hätte ausdenken können (Erinnern wir uns an Marke, Tristan und Isolde im 2. Akt seines Tristans).


v.l.n.r. Bianca Andrew (Bonté), Bianca Tognocchi (Beauté),
Judita Nagyová (Souffrance) und Anna Gabler (Verité)

Dante hätte hämisch gelacht

Die vier Göttinnen, gesungen von Anna Gabler, Sopran, als Verité, Bianca Andrew, Mezzosopran, als Bonté, Bianca Tognocchi, Mezzosopran, als Beauté, sowie Judita Nagyová, Alt, als Souffrance, passten bestens in das himmlische Mysterienspiel, bewegten sich entsprechend statisch figurativ wie gleichzeitig engelhaft fließend in ihren blassen Metallic-farbenen Bonbon Outfits und bereicherten das himmlische Geschehen durch Klarheit und Bestimmtheit. So wie sie agierten, möchte man allerdings den Himmel nicht erleben. Alighieri Dante hätte hier ein hämisches Lächeln auf den Lippen gehabt.


Bühne im 3. Akt

Eine Oper für mehrere Besuche

Bemerkenswert noch der Chor, der, abgesehen zu Beginn des 3. Aktes, ausschließlich aus dem Off sang, ein Stilmittel, dass nicht nur bei Wagner, sondern überhaupt das Opernsujet der Romantik beherrschte. Auf der Trauerfeier zum ersten Tod Guercœurs im 1. Akt erschien er zwar auf der Parlamentsbühne, ohne allerdings zu singen. Großes Lob an Virginie Déjos, die derzeitige Chordirektorin am Theater Heidelberg, die den Frankfurter Chor und Extrachor makellos leitete. 

Ebenso ist das Frankfurter Opern- und Museumsorchester herauszustellen, das unter der insgesamt umsichtigen musikalischen Leitung (im ersten Akt einige Unstimmigkeiten) von Marie Jacquot ein musikalisches Klima zwischen Wagner, Berlioz, Franck und Duparc herstellte, wie es besser nicht sein konnte. Eine musikalische Reise durch das Fin de Siècle mit zeitlosen politischen und philosophischen Bezügen.

Eine Oper, die man sich auch mehrmals anschauen sollte. Immerhin wird sie noch sieben Mal aufgeführt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen