Royal Philharmonic Orchestra, musikalische Leitung: Vasily Petrenko und Julia Fischer (Violine), Alte Oper Frankfurt, 09.02.2025 (eine Veranstaltung von PRO ARTE)
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Julia Fischer (Foto: Website) |
Eigenwillig und umstritten
Sinfonische Dichtung ohne Zustimmung, Befreiungsschlag nach depressiver Lebensphase und Ausbruch aus einer tiefen Schaffenskrise: Drei Werke von eigenwilligen und umstrittenen Komponisten, die die Musik des 20. Jahrhunderts nicht unwesentlich beeinflussten und es heute noch immer tun.
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Vasily Petrenko, Royal Philharmonic Orchestra Foto: Frances Marshall |
„Meine eigene Hand gezeigt“
Das Royal Philharmonic Orchestra (RPO), von keinem Geringeren als Sir Thomas Beecham im Jahre 1946 in London gegründet, hatte drei Werke im Koffer, die unterschiedlicher kaum sein konnten und dennoch ein Spiegelbild ihrer Zeit abgaben.
Zunächst das seinerzeit heftig umstrittene Orchesterwerk von Modest Mussorgsky (1839-1881) Eine Nacht auf dem kahlen Berge (1867), eine sinfonische Dichtung, die er selbst Johannisnacht auf dem Kahlen Berge nannte und von der er meinte, dass es ein gutes Stück sei, „und zwar ein solches, in dem ich zum ersten Mal einem großen Werk meine eigene Handschrift gezeigt habe“.
Ganz im Gegensatz zu seinen Mitstreitern, dem mächtigen Häuflein, darunter Mili Balakirew (1837-1910) und Nikolai Rimski-Korsakow (1844-1908). Sie waren alles andere als überzeugt, lehnten das Werk geradezu ab, zu lang, zu zerrissen, zu düster zu überreizt etc., und Letztgenannter machte sich nach dem Tode Mussorgskys dran, das sperrige Tongemälde umzugestalten. Das aber mit großem Erfolg.
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Vasily Petrenko (Foto: credit _tarlowa.com) |
Rimski-Korsakow statt Mussorgsky
Die heutige Version ist die von Rimski-Korsakow, dem auch die Umbenennung der Komposition zu verdanken ist.
Das gut 13-minütige vierteilige Werk, Geschwätz der Hexen, Satans Zug, Schwarze Messe und Hexensabbat, bietet einen fantastischen Blick auf die Johannisnacht der Hexen am 23./24. Juni, vergleichbar der Walpurgisnacht auf dem Blocksberg beim Wechsel zum 1. Mai.
Das Orchester beginnt gleich mit einer Klangfolge, die es insgesamt auszeichnet. Unglaublich differenzierte Streicherklänge gepaart mit Blechbläsereinlagen von extremster Intensität. Ein Steigerungslauf vom wilden Geplapper, zur majestätischen Erscheinung des Teufels, über die rhythmisch verquaste triumphale Schwarze Messe hin zum Hexensabbat, der allerdings im Mitternachtsglockenklang zu verebben scheint.
Die bösen Geister werden bei betörenden Streicherdmelodien, Harfenklängen und hellen Flötenmotiven vom Johannisberg vertrieben und der Ort wieder dem richtigen Leben übergeben.
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Vasily Petrenko, Royal Philharmonic Orchestra Foto: H.boscaiolo |
Alles voller Leben
Großartiger Einstieg in den Konzertabend. Vasily Petrenko (*1976) zeigte bereits hier sein schauspielerisches Talent, seine Körpersprache allein ließ das surreale Leben auf dem Johannisberg förmlich miterleben.
Dann der musikalische Höhepunkt mit Julia Fischer (*1983) an der Violine, übrigens eine Giovanni Battista Guadagnini aus dem Jahre 1742. Sie spielte von Jean Sibelius (1865-1957) sein einziges Violinkonzert in d-Moll op. 47 (1903/04).
Folgt man den Aussagen seiner Frau Aino, so befand sich der Komponist in einer depressiven, ja bedenklichen Verfassung, bis er, ja bis er die Idee zur Komposition dieses Konzerts aufnahm und wie besessen dieses Werk in nicht allzu langer Schaffensphase gestaltete. Dazu seine Frau: „Die Nächte hindurch wacht er, spielt wunderbar schön, kann sich nicht von den verzaubernden Tönen losreißen.“ Alles sei so voller Leben.
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Julia Fischer, Vasily Petrenko, Royal Philharmonic Orchestra Foto: H.boscaiolo |
Persönlicher Befreiungsschlag
Und tatsächlich scheint Sibelius von seinem Image des Nationalkomponisten, des Patrioten und Naturfanatikers loszukommen. Es heißt nicht ganz zu unrecht, dass ihm mit diesem Werk ein persönlicher Befreiungsschlag gelungen sei.
Das dreisätzige Werk beginnt allerdings eher mit leisen, zurückhaltenden Tönen. Ausgefeilte Dynamik beherrscht den Sonatensatz, der gleich mit zwei Kadenzen hervorsticht (in der Exposition am Ende der Durchführung als Einleitung zur Reprise) und durch virtuose Verarbeitung der Themen mit einem Hauch von Melancholie aufwartet.
Im Flow der finnischen Weite
Julia Fischer, ganz in rostroter Robe, versteht es glänzend, die Stimmung des Komponisten einzufangen. Ihr Strich ist betörend schön, unglaublich souverän ihre Interpretation und absolut kompromisslos die Handhabung des Instruments. Tief in die Musik versunken, überwölbt sie klanglich das Orchester, das allerdings in bester dialogischer Manier das Spiel der Solistin untermalt. Hier wiederum hat der Dirigent seinen nicht unerheblichen Anteil.
Der lyrische zweite Teil, ein Adagio di molto, wird von Oboen, Klarinetten und Hörnern sanft eingeleitet und in tiefem, fast klagenden Duktus von der Solistin fortgeführt. Es ist ein dreiteiliges variatives Lied mit orchestralem Mittelteil und trotz tiefer Seufzer doch in positivem B-Dur gehalten.
Julia Fischer ist jetzt im Flow der finnischen Weite und wohl damit zusammenhängenden Schwermut ihrer Bewohner. Sie spielt berückend, schwelgt förmlich in der Klangfülle und glänzt durch wunderschöne langanhaltende Triller, die dann durch den Einsatz der Hörner in den Finalsatz münden.
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Julia Fischer, Royal Philharmonic Orchestra Foto: H.boscaiolo |
Dans makabre
Der wiederum hat es in sich. Ein ekstatischer Hexentanz, ein Dans makabre ist er, gespickt mit Höchstschwierigkeiten des solistischen Parts und reich an Verzierungen und dramatischen Begebenheiten. Eine anspruchsvolle Variation beschreibt die Durchführung mit aufbauschendem Einsatz des Tutti, um dann in der Reprise noch einmal den Hexentanz aufzunehmen, nur jetzt mit noch extremerer Virtuosität.
Lange Flageolett-Einlagen und heftige metrische Wechsel führen schrittweise in die Coda, laut, tosend und mit heftigem Schlussakkord.
Zwiesprache mit dem Meister gehalten
Julia Fischer ist eine Meisterin auf ihrem Instrument. Souverän, ernst, kompromisslos und tief in die Werkabsicht der Komposition hineindenkend.
Sibelius´ „persönlicher Befreiungsschlag“ hat sie nahezu perfekt musikalisch zum Ausdruck gebracht. Eine Fähigkeit, die intensive Auseinandersetzung voraussetzt, so als ob sie Zwiesprache mit dem Meister gehalten hätte.
Sie kann auch lächeln und war gerne für eine Zugabe bereit. Sie spielte von Niccolo Paganini das Caprice Nr. 13 in B-Dur und das mit größter Perfektion, aber vor allem auch mit herrlichen Stimmungswechseln und bester Ausdruckskraft. Ein begeisternder Auftritt im Großen Saal der Alten Oper Frankfurt.
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Vasily Petrenko, Julia Fischer, Royal Philharmonic Orchestra Foto: H.boscaiolo |
Konzert, oder Sinfonie?
Dann zum Abschluss des Konzerts von Béla Bartók (1881-1945) sein Konzert für Orchester Sz 116 (1943).
Auch diese Komposition hat eine dramatische, fast schon tragische Vorgeschichte. Bartók musste notgedrungen Ende 1940 aus seiner Heimat Ungarn (Budapest) fliehen und nach den USA auswandern, wo er sich allerdings sehr unwohl fühlte, keinen Anschluss fand und in eine tiefe Schaffenskrise stürzte.
Dem Dirigenten und einflussreichen Entertainer Sergej Kussewitzky ist es zu verdanken, dass er wieder Fuß fassen konnte. Er nämlich verschaffte ihm einen Kompositionsauftrag, den er im Spätsommer 1943 realisierte. Der Erfolg verschaffte ihm neuen Lebensmut. Er war in den USA angekommen, leider aber sehr erkrankt und erlag seinem Leiden knapp zwei Jahre später.
Das Konzert, oder ist es doch eine Sinfonie?, wurde sofort zum Renner auf den Bühnen Amerikas. Bartók hat es geschickterweise in fünf Sätze aufgeteilt, in Introduzione, Spiel der Paare, Elegia, unterbrochenes Zwischenspiel und Finale, mit der Besonderheit, dass viele Passagen auf einzelne Instrumente und Instrumentengruppen zugeschnitten sind, insofern das Werk den Charakter eines Konzerts, eines wechselseitigen Konzertierens bekommt.
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Vasily Petrenko, Royal Philharmonic Orchestra Foto: H.boscaiolo |
Sich aus dem Sumpf ziehen
Sehr spannend die unterschiedlichen Stimmungen, die in den einzelnen Teilen zum Ausdruck kommen. Da wäre das brachiale Allegro vivace der Introduzione, fast verbittert, gequält und wütend, dann das folgende Scherzo, das Spiel der Paare, ein metrisches Wechselspiel zwischen Fagotten, Flöten, Oboen, Trompeten und Hörnern.
Die Elegia lässt den Komponisten noch einmal in tiefe Depression fallen. Allerdings unterbrochen durch heftige Paukenschläge und aufmüpfige Blechbläser Einwendungen. Bartók kämpft hier mit sich selbst. Wie soll es weitergehen? Er scheint sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf ziehen zu wollen.
Ich bin angekommen
Denn im nächsten Satz, dem unterbrochenen Zwischenspiel, findet er langsam aber sicher zu sich selbst und kann mit seiner neuen Situation Frieden schließen.
Fließende Melodien beherrschen den Satz, Franz Lehars Lustige Witwe ist herauszuhören, aber auch amerikanische Country Music und Broadway Schlager. Glissandi der Posaunen und lachende Holzbläser mit synkopischen Rhythmuswechseln, schaffen einen Flair von Jazz und Swing, der übergangslos in das Finale mündet.
Ein Perpetuum mobile mit folkloristischen, jazzigen, musicaltypischen, aber auch kontrapunktischen Einwürfen lassen die Absicht heraushören, mit dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten ein Abkommen zu treffen: Ich bin jetzt angekommen, mein gespaltenes Verhältnis zur neuen Welt ist abgelegt, ich habe wieder Zuversicht gewonnen.
Ein Schauspieler par excellence
All das hat das Royal Philharmonic Orchestra unter der Leitung ihres Direktors Vasily Petrenko in großartiger Weise musikalisch zur Geltung gebracht. Dazu muss das herausragende Dirigat erwähnt werden.
Petrenko ist ein Schauspieler par excellence. Er reißt mit, demonstriert durch Körpersprache, was der Komponist fühlt und überträgt diese Stimmung zu 100-Prozent auf den Klangkörper.
Der wiederum ist einsame Klasse, vor allem im Bereich der Streicher (Immerhin waren gut 90 Instrumentalisten auf der Bühne, davon 60 Streicher). Aber auch die Bläser sind nicht zu verachten, ihr Klangvolumen und technische Versiertheit sucht seinesgleichen.
Das RPO ist zweifelsfrei eines der besten Orchester auf diesem Globus. Leider zu selten in Deutschland und in Frankfurt, meines Wissens, zum ersten Mal. Dabei sollte es nicht bleiben.
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Vasily Petrenko, Royal Philharmonic Orchestra Foto: H.boscaiolo |
Englischer Witz pur
Die beiden Zugaben waren von außerordentlicher Besonderheit und Spritzigkeit: Einmal ein „englischer Fandango“ (O-Ton Vasily Petrenko) aus der Hand Arthur Sullivans (1842-1900), ein Tanz wie eine Polka von nur wenigen Minuten, und dann von Johannes Brahms (1833-1897) der Ungarischen Tanz Nr. 5. Ein Klassiker zwar, aber dafür mit herausstechendem englischen Witz gewürzt.
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