Ensemble Modern, fünftes Abonnementkonzert mit Uraufführungen von Brigitta Muntendorf und Hainbach, Alte Oper Frankfurt, 09.03.2025
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Mitglieder des Ensemble Modern (Foto: H.boscaiolo) |
Ungeheure Wucht und Klangkraft
Zwei Uraufführungen von ungeheurer Wucht und Klangkraft sollten den langen Konzertabend im vollbesetzten Mozartsaal und im Clara Schumann Foyer der Alten Oper Frankfurt zu einem buchstäblichen Wahnsinnstrip durch die Welt der Elektronik, des 3 D-Audio, der Augmentet Realität (der virtuellen Erweiterung der Realität) und last but not least in die Welt des hybriden Instrumentariums führen, die das überwiegend klassisch orientierte Alte Opernhaus in dieser Material- und Klangdichte wohl noch nicht erlebt hat.
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Brigitta Muntendorf (Foto: Johann Sebastian Hanel) |
Werdet wie die Kinder
Zunächst Brigitta Muntendorfs (*1982) konzertante Variante ihrer Oper Melencolia, die bereits bei ihrer Uraufführung im Jahre 2022 auf den Bregenzer Festspielen wahre Begeisterungsstürme erlebte.
Als zweite Variante einer dreiteiligen Bearbeitung von Melencolia kann man die konzertante Version am gestrigen Abonnementsabend durchaus als Uraufführung bezeichnen. Vier der insgesamt sieben Szenenbilder hat die Komponistin dazu ausgewählt:
Planet Norn, eine Begegnung mit den antiken Schicksalsgöttinnen, Zidane / Tuba Mirum, eine Episode aus Zinédine Zidanes Fußballlebens (wer erinnert sich nicht an den Ausraster des damals weltbesten Fußballer auf den Fußballweltmeisterschaft im Jahre 2006 auf deutschem Boden), Nekropolis, ein philosophischer Abschnitt, der die Frage des existenziellen Warum stellt, und abschließend Lullaby for an Unborn (Wiegenlied für ein Ungeborenes), das mit entwaffnender Schlichtheit die Antwort zu geben scheint: Werdet wie die Kinder.
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Brigitta Muntendorf, Ensemble Modern (Foto: H.boscaiolo) |
Alles andere als Melancholie
Ist man zunächst geneigt, Melencolia mit Melancholie, einer unbestimmten Traurigkeit, gleichzusetzen, betont die Komponistin ihre positive Seite, nämlich „als tiefe Auseinandersetzung mit uns und der Welt“. Nur der Melancholiker sei zu kreativen Leistungen fähig, wobei sie sich auf die Aussagen des Kunsthistorikers Erwin Panowsky (1892-1968) wie auch auf den Zeitgenossen Albrecht Dürers, Marsilio Ficino (1433-1499) bezieht, die die Genialität der Melancholiker hervorheben.
Warum Albrecht Dürer? Sein Kupferstich Melencolia von 1514 wurde für Brigitta Muntendorf zur Ausgangsidee ihrer gleichnamigen Oper.
Dialektik der Negativität
Dreizehn Instrumentalisten des Ensemble Modern standen auf der Bühne. Umgeben von diversen Lautsprechern, alle verbunden mit elektronischem Material, das durch eine ausgedehnte Tontechnik, einschließlich künstlicher Intelligenz (KI), aus den Händen von Norbert Ommer, Lukas Nowok und Felix Dreher gesteuert wurde.
Die Nornen wurden zunächst durch schnelle und enge Triolen des Cellos musikalisch vorgestellt und dann durch Oboe, Klavier, Posaune und Trompete erweitert. Ein spannungsgeladener Einstieg, dessen erster Knackpunkt durch heftige Glockenschläge und heulende Glissandi eingeleitet, Angst und Schrecken der Nornen verbreitete.
Ein Wechsel ließ erstmals ein Stimme ertönen, die von einer schönen und gleichzeitig traurigen Welt spricht: „Veränderung ist ganz schön, ist aber auch ein wenig traurig.“ Dazu eine musikalische Begleitung mit langem Orgelton und rezitativischer Instrumentierung.
Ein neuer Rhythmus leitet quasi eine Reprise ein. Wieder schnelle, eng geführte Triolen, aber jetzt mit melodischen Elementen und ein wenig Dies Irae Motivik. Die Nornen werden zu Verführerinnen, durch das Flageolett der Streicher und die leisen Rufen der Bläser unterstützt. Sie singen im elektronischen Chor, hell und süßlich, verschwinden dann aber im Äther.
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Brigitta Muntendorf, Saeid Shanbezadeh, Ensemble Modern (Foto: H.boscaiolo) |
„Die letzte Flucht vor der Vollendung“
Ein langer, von Ueli Wiget (dem Pianisten des EM) auf französisch deklamierter Text von Jean Philippe Toussaint (*1957) folgt im zweiten Bild. Es geht um den Fußballer Zinédine Zidane, dessen Verbrechen darin bestand, seinem Gegner Marco Materazzi im Fußballweltmeisterschafts Endspiel zwischen Frankreich und Italien im Jahre 2006 in der 109. Minute der Verlängerung eine Kopfnuss verpasst zu haben, wohlgemerkt nach etlichen ungeahndeten Fouls an ihm.
Muntendorf hebt in diesem Abschnitt die Verbitterung des Spielers heraus, der sich durch die Tat Erleichterung verschafft. Musikalisch gelingt ihr das durch Chorgesänge und tatsächlich durch Rufe aus den Reihen des Ensemble Modern, die sich als Fußballfans outen.
Eine exzellente Deklamation Ueli Wigets, aber auch eine Geräuschkulisse, die an ein Stadionevent erinnert, lassen den Zuhörer in die Welt eines vom Platz gestellten genialen Fußballers eindringen. „Die letzte Flucht vor der Vollendung des Werks“ lautet der Schluss des Textes.
Bekanntlich ist Zinédine Zidane noch heute einer der erfolgreichsten Trainer weltweit.
Existenzialismus in Reinform
Kommen wir zum dritten Bild, zur Nekropolis, eigentlich eine Grabstätte von besonderer Bedeutung. Muntendorf lässt hier zwei Duette in den Vordergrund treten. Die beiden Perkussionisten, David Haller und Rainer Römer, wie die beiden Geiger, Jagdish Mistry und Georgos Panagiotidis.
Die Drummer schlagen mit ihren Schlägeln gegeneinander den Rhythmus, während die Geiger eine abgehackte Melodie förmlich inszenieren. Gleichzeitig spielt Paul Cannon auf einem E-Kontrabass hellste Töne, lyrisch und gesanglich in der Anlage.
Aus dem Off ruft es zwischenzeitlich „Stay“, Bleib! und die Antwort folgt: „I go to hell, i die!" (ich gehe zur Hölle, ich sterbe), und das untermalt von einem persischen Dudelsack, genannt Ney-anbān (virtuell gespielt von Saeid Shanbezadeh).
Existenzialismus in Reinform, möchte man meinen. Hier ist der Bezug zur Grundidee, der Gleichgültigkeit des Universums zum Geschehen auf diesem Globus nicht nur augenscheinlich, sondern in jedem Ton hörbar.
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Mitglieder des Ensemble Modern (Foto: H.boscaiolo) |
Ein Wiegenlied der Erkenntnis
Jetzt ist der Übergang zum Schlussbild Lullaby for an Unborn geradezu Pflicht. Wohin geht die Menschheit? lautet die Frage. Wie ist es mit Heideggers Grundsatz, ungefragt in diese Welt geworfen sein?
Gleich zu Beginn ein schräges „Hänschen klein, ging allein, in die weite Welt hinein“. Variativ erweitert bis zu einem jazzigen Dixieland. Autohupen, Straßenlärm kommen aus den Boxen, aufreizende Tonschleifen wollen kein Ende nehmen. Es pulsiert all überall, von den Instrumenten wie aus den Boxen. Dann die gesprochene Frage: "Where are you from?" Dann auf deutsch: "Wo kommst Du her?" Dann die Antwort: "Afrika!"
Die Musik wird friedlicher, sie ist ab jetzt positiv zum Wiegenlied mutiert. Die Instrumente hauchen, das Klavier spielt stimmungsvolle Kinderlieder, Babygesang wird hörbar, das Flageolett der Streicher und Bläser lässt friedliche, ja himmlische Stimmung aufkommen.
Das konzertante Spektakel endet in kindlichem Ton, nach dem philosophischen Prinzip: Werdet wie die Kinder. Nur in ihnen liegt Wahrheit, das Schöne und das Gute.
„Das Leben ist absurd“
Großer langanhaltender Beifall. Zu Recht. In einem Kurzinterview der Komponistin mit dem künstlerischen Manager und Geschäftsführer des Ensemble Modern, Christian Fausch, streicht sie im Clara Schumann Foyer noch einmal den kreativen Raum der Melancholie heraus und spitzt ihre Haltung darin zu, dass sie das Leben ziemlich absurd findet, und vergleicht es mit einem „Sänger, der wunderschön singt, aber gleichzeitig nach Luft ringt“. Eine gelungene Metapher für das, für diesen Abend entschlackte Werk, das eindrucksvoll zwischen Resignation und Aufbruch, zwischen Reaktion und Aktion changiert.
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Hainbach (Foto: Website des Ensemble Modern) |
Das Tonband – ein lebendiges Instrument
Hainbach, mit bürgerlichem Namen Stefan Paul Goetsch (*1978), ist unter Elektronikfreaks ein Begriff und gehört wohl zu den innovativsten Komponisten experimenteller elektronischer Musik. Seit 2022 arbeitet er im Rahmen der Checkpoint Reihe mit dem Ensemble Modern zusammen, und, wie es heißt, „es war Liebe auf den ersten Blick“.
Seine Uraufführung nennt er Durchsetzungsverstärker – Eco delle Traduzione und versteht sich als Weiterentwicklung seiner Checkpoint-Experimente der letzten drei Jahre.
Hainbachs Markenzeichen sind ausrangierte elektronische Geräte, darunter auch solche aus der Nukleartechnik, die er wiederverwendet aber auch weiterentwickelt. Für den Abend hatte er ein Modular Synthesizer, ein entsprechendes Modul und zwei alte Tonbandgeräte, deren Bänder er über gut fünf Meter miteinander verband, mitgebracht. Dazu der Komponist: „Für mich ist das Tonband ein eigenes, lebendiges Instrument … (mit) unglaubliche (n) Spielmöglichkeiten.“ (aus dem Programm).
Antike Dramenstruktur eines Aristoteles
Sieben Spieler des Ensemble Modern und Hainbach höchstselbst gestalteten das gut vierzig minütige Klangkonvolut, in dem er selbst als musikalischer Spielleiter fungiert, durch „Spaghettisierung“ der Tonstrukturen besondere Effekte erzeugt, das hybride (digitale und analoge) Instrumentarium beliebig erweitert und verfremdet und dabei die klassische Dramenstruktur eines Aristoteles (!), gemeint: Exposition, Komplikation, Rückführung, Höhepunkt, Verzögern und abschließende Katastrophe, als Vorbild nimmt.
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v. l.: David Haller, Paul Cannon, Megumi Kasakawa, Hainbach (Foto: H.boscaiolo) |
Absoluter Free Style
Tatsächlich ist das Werk in fünf Teile gegliedert. Es beginnt mit einem langen Ton aus dem Synthesizer, der sich mikrotonal splittet, verschiedene Farbnuancen annimmt, und, über sechs Boxen verteilt, den Raum erfüllt.
Dann folgen bei blauem Saallicht Komplikationen, wo alle Instrumente zum Einsatz kommen, sehr minimalistisch mit Sekund-Intervall-Wechseln und rhythmischen Repetitionen. Bei roter Saalbeleuchtung kommt es zum Höhepunkt durch heftige Trommelschläge und lautes Tuba- und Klaviergetöse.
Allerdings bilden die Posaune, das Kontrafagott, die Trompete und das Schlagzeug ein ganz eigene Sequenz. Sie lassen es im Stil des Rock Jazz krachen. Sehr schräg und mit perfekter Improvisation. Bei weißem Licht geht es dann zur Verzögerung, zur Retardierung.
Jetzt kommen die Tonbänder ins Spiel. Hainbach bedient die langen Bänder und ein Knattern, ein Rauschen, wie bei schlechtem Radioempfang, durchflutet den Saal. Reibegeräusche der Instrumente, der Rhythmus des Schlagzeugers auf der Kalebasse und einem Klangblech sowie die seltsamen Geräusche der langen Bänder, die Hainbach teilweise im Laufschritt bedient, erzeugen eine Free Style Atmosphäre mit ganz eigener Expressivität.
Die Sufi Derwische lassen grüßen
Der fünfte Teil, die Katastrophe oder das Chaos, könnte auch als Reprise mit Coda verstanden werden. Alles zurück zum Modalen Synthesizer, die Bratsche und der Kontrabass heulen im unisono, das Klavier wird über die Saiten bedient und ein endloses Ostinato aus dem Synthesizer lässt den sieben Instrumentalisten Raum für wilde Improvisationsorgien.
Mit viel Spaß und Freude endet das Ganze wie im Trancezustand eines Sufi-Tanzes mit endlos Drehungen der Derwische.
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Mitglieder des Ensemble Modern (Foto: H.boscaiolo) |
Polychrome Reise mit Schock-Erlebnis
Aber der finale Schluss, die Coda, gestaltet sich wie in klassischen italienischen Opern: im Deus ex machina. Konkret: das Tonband und die Elektronik nehmen die Geschicke in die Hand. Mit sehr leisem Ton wird ein Kinderlied abgespielt, dann pufft es aus den Boxen und Aus ist das Ganze.
Sehr spannende Minuten mit unglaublichen elektroakustischen Klangerzeugungen. Eine polychrome Reise durch die Welt der synthetischen Töne. Nicht von ungefähr nennt man Hainbach auch einen "Musikfrickler" - ich würde ihn löblich als Musikfutscheler bezeichnen -, dessen Klangwelt sich förmlich in die Ohren schraubt. Dem Publikum hat es gefallen. Es war auch wirklich ein positives Shock-Film-Erlebnis.
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