Montag, 31. März 2025

L´Invisible, Trilogie Lyrique, Oper und Libretto von Aribert Reimann, nach Texten von Maurice Maeterlinck, Oper Frankfurt, 30.03.2025 (Premiere und Frankfurter Erstaufführung) 


La mort de Tintagiles
Irina Simmes
(Ygraine)
alle Fotos: Monika Rittershaus

Allgegenwärtiger Eindringling – Kokettieren mit dem Tod

Aribert Reimann (1936- 2024) stellte der 2017 in Berlin uraufgeführten Oper L´Invisible (das Unsichtbare) das Motto voran: „Und wer sitzt da in unserer Mitte?“ Ein Satz, den der blinde Großvater im ersten Akt L´Intruse (der Eindringling) ausspricht, und dabei als hellsehender Geist mit dem allgegenwärtigen Tod kommuniziert, ohne ihn wirklich als solchen anzusprechen. 

Bekanntlich hat Reimann diese Trilogie lyrique von knapp 85 Minuten Dauer seinem Bruder Dietrich gewidmet, der während eines Bombenangriffs auf die Stadt Templin im Jahre 1944 in einem Krankenhaus liegend als 12-jähriger ums Leben gekommen ist. Ein Trauma, das Aribert Reimann zeitlebens begleitete und wesentlich zur Entscheidung beitrug, diese Oper zu schreiben.

Reimann stützte sich dabei auf den Symbolisten Maurice Maeterlinck (1862-1949), dessen gleichnamige Kurzdramen er zum Vorbild seiner Trilogie genommen hat: L´Intruse, Interieur (Innenleben) und La Mort de Tintagiles (Der Tod des Tintagiles), worin jener in vieldeutigen, stets realistischen Handlungen mit dem Tod nahezu kokettiert, ohne ihn allerdings direkt zu benennen.


Getrost dem Tod in die Augen schauen

Das Team um die Regisseurin und Debütantin, Daniela Löffler, Fabian Wendling (Bühnenbild), Daniela Selig (Kostüme), Joachim Klein (Licht), Maximilian Enderle (Dramaturgie) und vor allem Titus Engel (musikalische Leitung), haben sich da einen Stoff vorgenommen, das die ausweglose Macht des Todes, die menschliche Endlichkeit in seiner ausgeprägtesten Form zum Thema macht, ohne allerdings die Angst davor überzubewerten. 

Der Tod als „metaphysische Geborgenheit“, als wichtiger Bestandteil des Lebens, bedeutet mehr als lediglich das Ende eines Kreislaufs zu beschreiben. Nein, Daniela Löffler, bei der selber, eigenen Aussagen zufolge, „der Tod schon einige Male zu Gast“ war, möchte herausstreichen, dass der Tod zwar unausweichlich sei (übrigens Leitmotiv der Oper), aber das Leben nichtsdestotrotz der „Macht der Hoffnungslosigkeit“ durch das bedingungslose Leben ein Schnippchen schlagen kann. 

Jeder, so ihr Fazit, solle sich dem vollständig widmen, was er für wichtig hält. Dann kann man getrost dem Tod ins Auge sehen.


L’Intruse
v.l.n.r. Irina Simmes (Ursule), Gerard Schneider (Der Onkel),
Statisterie der Oper Frankfurt (Ursules Schwestern)
und Erik van Heyningen (Der Großvater)

Zwischen Angst und Zuversicht

Kommen wir an dieser Stelle zur Inszenierung. Die Trilogie beginnt mit L´Intruse. Ein gut 20-minütiges Familientreffen (insgesamt 8 Personen) während dem die Mutter im Kindbett mit dem Tode ringt. Schattenhafter Hintergrund lässt die Situation schaurig erscheinen. Ein langer Tisch dominiert die Bühne

Am Rand sitzt die Mutter in einem Rollstuhl und malt mit einfachen Strichen ein Kindergesicht mit Krone auf dem Haupt. Untermalt wird das Ganze mit abgehackten Phrasen der Streicher, dunklen Cellostreicherbögen und plötzlichen, emotionalen Ausbrüchen.

Die innere Spannung ist förmlich zu spüren. Die familiäre Gesellschaft schwankt zwischen Angst und Zuversicht. Der blinde Großvater ahnt Schlimmes: „Es hat noch viel Dunkelheit zwischen uns!“ Tatsächlich gehen imaginäre Türen auf und lassen sich nicht wieder schließen. Es wird eine Verwandte erwartet, die nicht kommt. 

Der Blinde ist sehend, die Gesellschaft blind, voller Angst und Schrecken. Der Akt endet mit dem Tod der Mutter und dem musikalischen Schrei der Flageolett Streicher. Dem Kind Geschrei? Dem Todesakkord?

Drei Gestalten aus der Zwischenwelt erscheinen. Sind es klassische Nornen aus der griechischen Antike, oder einfach nur fantastische Wesen? Man weiß es nicht. Drei wunderbare Countertenöre aber allemal, die den Tisch entfernen und die Gesellschaft in einem madrigalartigen Singsang auflösen.


Intérieur
vorne v. l.: Erik van Heyningen und Gerard Schneider
sowie im Hintergrund das Ensemble

Werden und Vergehen

Der Übergang in den zweiten Akt Intérieur geschieht fließend. Von der Bühnendecke werden vier Landschaften herabgelassen. Man schaut aber nicht allein auf die Idylle der Oberfläche, sondern auch auf lange Wurzeln, die darunter einen überdimensionierten Anteil ausmachen. 

Ein undurchdringliches Gewirr im Unten, im absolutem Kontrast zur geordneten Schönheit im Oben. Eine wunderbare Idee der Sichtbarmachung dessen, was man unter normalen Umständen nicht sehen kann. Das Werden und das Vergehen, der Kreislauf des Lebens. 

Musikalisch wechselt die Instrumentation zu den Bläsern. Cluster, Tremoli und tiefe Klangflächen des Heckelphons und der Kontrabassklarinette geben der Stimmung eine düstere Klangfarbe.


Intérieur
von oben nach unten Erik van Heyningen (Der Alte),
Gerard Schneider (Der Fremde)
und Statisterie (Die Tote im Wasser)

Zerfall der Familie

Eine junge Frau begeht Suizid. Die drei Nornen übergießen sie symbolisch mit Wasser. Zwei Männer, Der Alte und der Fremde, stehen bei der Leiche und beraten, wie sie den Eltern die Todesnachricht überbringen sollen. Auf der paradiesischen Idylle spielt sich parallel das bürgerliche Leben (Vater, Mutter und zwei Kinder), einem Monet Gemälde (Die Familie Monet in ihren Garten in Argenteuil, 1874) gleich, ab. Friede und Freude rangieren vor Tod und innerem Konflikt der beiden Männer.

Die eigentliche Szene aber besteht aus der Nachricht des Alten an die Familie, die allerdings niemand hört, sondern nur zu beobachten ist. Ein Zerfall der Familie wird sichtbar. Zurück bleibt eines der Kinder. 

Wieder erscheinen die drei Wesen aus der Zwischenwelt, bahren die Leiche auf dem Tisch, an dem bereits die Familie im ersten Akt dinierte, und leiten den dritten Akt ein, begleitet von heftigen perkussiven Gongeinlagen, korrespondierend mit Pauken, Posaunen und Trompeten.


La mort de Tintagiles
v.l.n.r. Irina Simmes (Ygraine), Victor Böhme (Tintagiles),
Karolina Makuła (Bellangère) und Erik van Heyningen (Aglovale)

Furcht und Zuversicht

La Mort de Tintagiles beschreibt in etwa die Geschichte der Turandot. Allerdings ist die alte Königin weder sichtbar noch hörbar. Sie tötet alle ihre vermeintlichen und echten Nachfolger. Dieses Mal ist es Tintagiles, ein noch kleiner Junge, der zwar spürt, dass etwas nicht stimmt, aber in seiner Unschuld das Böse nicht erkennen kann, oder „noch nicht sagen kann, was es (er) erlebt“.

Er wird beschützt von den Schwestern Ygraine und Bellangère sowie dem alten Aglovale. In großartiger Koloratur beschreibt Ygraine, alias Irina Simmes, auf der erhobenen Fläche der Landschaft, die Dunkelheit des Schlosses. An ihrer Seite der kleine Tintagiles, alias Victor Böhme, und singt: „Siehst du das Schloss? Es ist in tiefster Finsternis … Niemand sieht sie, sie will allein regieren, eine Macht, die niemand begreift!“

Und der Junge lässt sich in Angst von ihr in die Arme nehmen: „Halt mich fest!“ Er versteht den Ernst seiner Lage nicht und legt sich zum Schlafen. Sprechpassagen des Jungen und die Koloraturen der Sängerin schaffen, gemeinsam mit der Instrumentation von an- und abschwellenden Klängen der verschiedensten Instrumente, ein spannungsgeladenes höchst expressives Klima zwischen Furcht und Zuversicht.


La mort de Tintagiles
v. l.: Irina Simmes, Johann Böhme 

Mein Blick zum Horizont“

Denn jetzt wendet sich das Blatt. Die Schwestern und Der Alte entscheiden sich für den Schutz des Jungen. Sie bewaffnen sich mit Schwertern und Ritterutensilien, um der Königin Widerstand zu bieten. Die Musik wechselt zum aufmunternden Tutti.

Dabei schlafen sie allerdings ein. Wieder erscheinen die drei Nornen, dieses Mal als Diener der Königin, und entführen das Kind. Unklar bleibt allerdings, ob sie es retten, oder der Königin ausliefern wollen. Begleitet von Harfe und höchsten Flageolett der Streicher erscheint das Kind auf der angehobenen Oberfläche, während Ygraine verzweifelte Rettungsversuche unternimmt. „Lasst ihn frei“, ruft sie flehend, „ich habe alles verloren!“ 

Die Musik wechselt vom höchst expressiven Tutti zur timbrierten dunklen Tonlage des Eingangsaktes. Die drei Genien/Nornen treten vor schwarzem Hintergrund auf und singen unisono: „Mein Blick zum Horizont.“


La mort de Tintagiles
liegend v.l.n.r. Karolina Makuła (Bellangère) und Irina Simmes (Ygraine) sowie
v.l.n.r. Iurii Iushkevich, Tobias Hechler - Johann Böhme tragend,
Dmitry Egorov 

Größte Hochachtung

Der Vorhang fällt, viele Fragen offen, aber wie auch anders bei einer solchen Thematik.

Die Sängerinnen und Sänger waren alle, ohne Ausnahme, stimmlich wie schauspielerisch, blendend in Form, sangen ihre schwierigen Partien mit großer Verve und emotionaler Hingabe. Allen voran zu erwähnen Irina Simmes, die in allen drei Akten auftrat und durch ihre herrliche Koloratur als Ygraine im dritten Akt besonders hervorstach.

Dazu zählen der Bariton Erik van Heyningen, auch er in allen drei Akten mit ausgesprochen sonorer Stimme vertreten. Wie die drei großartigen Countertenöre Jurii Iushkevich, Tobias Hechler und Dmitry Egorov, die gnadenlos schön, gesanglich wie schauspielerisch, ihre undurchsichtigen Rollen präsentierten. Perfekt ihre Unisono Gesänge wie aus einem gregorianischen Choral, die durch Mark und Bein gingen.

Bemerkenswert zudem, dass alle Teilnehmer dieser Premiere ihr Rollendebüt gaben. Da bleibt nur größte Hochachtung vor einer nahezu perfekten Vorstellung.


Herbe Schönheit eines modernen Klassikers

Die Musik, ja die Musik vor allem macht diese Oper zu einer einmaligen Produktion. Nicht zuletzt ist dies der musikalischen Leitung von Titus Engel zu verdanken, der die komplexe Partitur zwischen Geräusch- und Rätselhaftigkeit, zwischen Gesanglichkeit und perkussiven Clustern, zwischen Melodie und Bruitismus, transparent und expressiv herausarbeitete und den Sängerinnen und Sängern die volle Ausdruckskraft zukommen ließ.

Das Ganze wohl im Sinne des Komponisten, der als pianistischer Liedbegleiter den „singenden Menschen als das Maß der Dinge“ begriff. Wunderbare Gesänge trotz heftiger Dissonanzen. Eine herbe Schönheit, die der moderne Klassiker (so wird Reimann auch genannt) in perfekter Manier aufs Papier zauberte.


La mort de Tintagiles
Irina Simmes (Ygraine), Victor Böhme (Tintagiles)

Verdammt zur Freiheit

Fazit: Nein, diese Oper ist kein trauriges Stück. Sie ist Ausdruck einer existenzialistischen Grundeinstellung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg durchsetzte, und die Aribert Reimann durchaus repräsentierte. 

Aber nicht in der allgemein nihilistischen Art und Weise, sondern eher im Sinne Jean Paul Sartres (1905-1980): „Wir sind verdammt zur Freiheit.“ Der zu erwartende Tod fordert zur Selbstbestimmung und zur eigenen Sinngebung auf. Und das in Ergänzung der geäußerten Absicht von Daniela Löffler: Gestehen wir uns ein, was uns wichtig ist! Mindestens Fünf Sterne für sie.


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