Tonhalle Orchester Zürich, musikalische Leitung: Paavo Järvi, am Flügel Víkingur Ólafsson, Alte Oper Frankfurt, 19.03.2025 (ein Veranstaltung von PRO ARTE)
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Tonhalle-Zürich Orchester (Foto: Gaetan Bally) |
Ein quasi Ehrenbürger der Stadt Frankfurt
Wer erinnert sich noch an das Debütkonzert des Víkingur Ólafsson vom Februar 2022, als er mit dem Bergen Philharmonic Orchestra unter der Leitung Edward Gardners mit der genialen Interpretation des Schumannschen a-Moll Konzerts op. 54 die Herzen der Frankfurter eroberte?
Der große Saal der Frankfurter Alten Oper war nur mäßig besetzt, aber die folgenden Lobeshymnen kannten keine Grenzen. Mittlerweile gehört der Ausnahmepianist quasi zum Ehrenbürger der Stadt Frankfurt, wobei man festhalten muss, dass dies ausschließlich dem Team von PRO ARTE zu verdanken ist.
Eigentlich wollte der Pianist dieses Mal das zweite Klavierkonzert von Johannes Brahms (das erste spielte er im vergangenen Jahr mit Bravour) vorstellen, hat sich aber, die Gründe bleiben sein Geheimnis, wieder für seinen Debüteinstieg von 2023 entschieden.
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Paavo Järvi (Foto: Website) |
Ein Bittgesang an die Lebenden wie die Toten
Dazu aber später. Denn zunächst empfing das Tonhalle Orchester Zürich unter der Leitung seines Chefs Paavo Järvi (*1962) den vollbesetzten großen Saal mit einem innigen Gebet aus der Hand von Arvo Pärt (*1935).
Eine kaum sieben minütige Erinnerung an einen verstorbenen Freund, den ehemaligen Präsidenten Estlands, Lennart Meri (1929-2006), der von ihm für sein Begräbnis eine Komposition wünschte. Pärt gab dem Werk den Titel „Für Lennart in memoriam“ (2006) und schrieb es für großes Streichorchester.
Ein inniges Kanongebet, das Arvo Pärt eigenen Aussagen zufolge seiner sechsten Ode aus dem Kanon prokajanen (Kanon der Buße von 1997) entnahm. Der Mittelteil, der mit langen Orgelpunkten der Kontrabässe unterfüttert ist, ein Totengebet des Archimandriten Sophrony (1896-1993), klingt mit seinen sich oft wiederholenden langen Fermaten-Pausen wie ein Bittgesang an die Lebenden wie die Toten.
Eine Komposition, erstmals auf Lennart Meris Trauerfeier aufgeführt, die große Ruhe und einen Blick ins Innere ermöglicht. Leider war das Publikum nicht darauf eingestellt, man hustete, die Handys klingelten haufenweise und jeder musste noch seine Bonbons auspacken. Man könnte verzweifeln.
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Vikingur Ólafsson (Foto: Website) |
Wirkungsvoll und spannungsgeladen
Große Erwartung setzte man natürlich auf Víkingur Ólafsson (*1984). Wie immer erschien er in Anzug mit weißem Hemd ohne Krawatte. Dieses Mal allerdings ohne Hornbrille und einem Anzug mit elegantem Schnitt. Der Pianist ist reifer und ein ausgesprochener Bühnen-Hero geworden, locker, gelöst und immer mit dem Publikum kokettierend. Das aber mit Charme und feiner Zurückhaltung.
Sein Spiel auf den Tasten wird immer besser. Schon sein gewaltiger akkordischer Einstieg in das a-Moll Klavierkonzert (1845) von Robert Schumann (1810-1856) lässt Wirkungsvolles und Spannungsgeladenes ahnen.
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Vikingur Ólafsson, Tonhalle-Orchester Zürich (Foto: Andrea Etter) |
Und man wird nicht enttäuscht. Im Gegenteil. Auch wenn das Orchester von gut 60 Instrumentalisten zunächst Schwierigkeiten hatte, mit der Vehemenz des Solisten mitzuhalten, er trieb und forderte, war doch spätestens bei der Durchführung des ersten „Fantasiesatzes“, Schumann bezeichnet ihn mit Allegro affettuoso, alles in Butter, oder besser in Einklang. Auch Paavo Järvi musste wohl das angeschlagene Tempo erst einmal erfassen.
Aber dann: Durchweg ein musikalischer Kontrast zwischen Eusebius, dem Träumerischen, und Florestan, dem Stürmischen, ein Leckerbissen des Schumannschen Erfindungsreichtums.
Hierzu sei bemerkt, dass beide Figuren in Schumanns Oeuvre eine entscheidende Rolle spielen, so zum Beispiel in seinen Davidsbündler-Tänzen op. 6, seinem Carneval op. 9, der Kreisleriana op.16, oder dem Faschingsschwank op.26, um nur die wichtigsten Kompositionen zu nennen.
Kontrastreiche Interpretation
Sehr kontrastreich fiel in diesem Sinne diese Interpretation auch aus. So glänzte das Intermezzo des zweiten Satzes, das Andantino grazioso, mit einem perfekten harmonisches Zusammenspiel von Tutti und Solo: ein gesangliches Thema mit herrlichem Portato und schwungvollen Tonleitern.
Das Allegro vivace des Schlusssatzes dagegen, mit virtuosen Passagen und Synkopischen Rhythmen im Seitenthema, könnte durchaus an Beethovens späte Klavierwerke wie auch dessen Fünftes Klavierkonzert erinnern. Extreme Akzentuierung, unglaublich dynamische Divergenzen und spannungsgeladene Dialoge zwischen Eusebius und Florestan.
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Vikingur Ólafsson, Tonhalle-Orchester Zürich (Foto: Andrea Etter) |
Neue musikalische Wege
Ein Spiel zwischen Poesie, Liebeserklärung an seine Frau Clara, die übrigens die Uraufführung des Klavierkonzerts bestritt, aber auch als Kampf der Gewalten, und aus der Sicht Schumanns, auch als ein Kampf zwischen Tradition und Fortschritt.
Denn mit diesem Klavierkonzert, seinem einzigen übrigens, ging er, (der Fortschrittsdenker Schumann war ein heftiger Verfechter der Programmmusik, im Gegensatz zur vorherrschenden Idee der absoluten Musik), neue musikalische Wege. Dazu vielleicht die zusammengefasste Kritik aus der Dresdner Abendzeitung vom Dez.1845, die die „selbstständige Orchesterbehandlung“ und „das Zurücktreten der Klavierpartie in den Hintergrund“ herausstrich und lobte. Heute würde man von Gleichbehandlung von Solo und Tutti sprechen.
Über den Dingen stehen
Bei dieser Interpretation konnte allerdings kaum davon die Rede sein, denn Ólafsson dominierte eindeutig das musikalische Geschehen auf der Bühne. Man hätte sich, ohne despektierlich zu sein, auch Järvi zumindest wegdenken können. Was der Interpretation keinen Nachteil brachte, denn Víkingur Ólafsson stand über den Dingen: seine Tastenbehandlung grenzte teilweise an eine Neukomposition des Werks, seine synkopischen Ausflüge ähnelten dem modernen Swing und seine Kadenz im Kopfsatz wirkten wie eine eigene fantastische Ausschmückung der Partitur.
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Vikingur Ólafsson, Tonhalle-Orchester Zürich (Foto: Andrea Etter) |
Grammy-Preis würdig
Ein Vergleich zum Debütauftritt wäre fehl am Platz. Aber diese Interpretation barg neue Impulse und transportierte diese Komposition in die Gegenwart, in die Post-Postmoderne unserer Zeit.
Zwei Zugaben schenkte er aus den Bachschen Goldbergvariationen. Ein kurzes Gespräch mit dem begeisterten Publikum, man johlte, pfiff und trampelte, und er wählte die dreizehnte und erste Variation.
Die dreizehnte in perfekter Ausgestaltung, Grammy-Preis würdig, und die erste in einem rasenden Tempo, aber ohne Makel. Dennoch als klarer Hinweis: Jetzt ist genug. Das Publikum rastete dagegen aus, aber im positiven Sinne natürlich gemeint.
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Tonhalle-Zürich Orchester (Foto: Gaetan Bally) |
Keine Programmmusik – doch Programmmusik
Der zweite Teil des Abends galt ebenfalls Robert Schumann. Die Rheinische, seine Dritte Sinfonie Es-Dur op. 97 (1850/1852) sollte es sein (die Vierte existierte bereits seit 1841), die er während seines Engagements in Düsseldorf (1850-1854) verfasste, und die wohl zu seiner beliebtesten werden sollte.
In kaum einem Monat entstand sie, und man munkelte, dass sie aus dem Anblick des Kölner Doms wie aus seinen Erlebnissen in den Rheinauen erwuchs. Schumann selbst, ein Anhänger der Programmmusik und der sinfonischen Dichtung, hat ihr dennoch den Namen Die Rheinische nicht gegeben.
Nach ihrer Uraufführung im Frühjahr 1852 im Geisler´schen Saal in Düsseldorf wurde sie zunächst enthusiastisch aufgenommen, aber auch von namhaften Komponisten wie Edvard Grieg, Felix Mendelssohn Bartholdy, Hans von Bülow und anderen dahingehend kritisiert: sie sei mit orchestralen Schwächen behaftet und voller Formmängel.
Tatsächlich hat Schumann sie mit ungewöhnlichen fünf statt üblichen drei bzw. vier Sätzen belegt, weicht von der Satzbezeichnung ab, nennt sie Lebhaft, Scherzo: sehr mäßig, nicht schnell, feierlich und lebhaft (bereits der späte Beethoven tut dies ebenfalls) und last but not least ist die Besetzung des Orchesters außergewöhnlich groß; sie gilt als die „am dicksten besetzte Schumannsinfonie“ (aus: Villa musica).
„Leicht zugänglich“
Das Tonhalle Orchester Zürich und ihr Chefdirigent Paavo Järvi hatten alle 90 Instrumentalisten aufgeboten und glänzten bereits im Kopfsatz durch satten Klang und überbordenden Aktivismus, wie ein reißender Strom des Rheins bei Hochwasser, Wind und Wetter.
Zart dagegen das Scherzo in sehr mäßigem Tempo gehalten und in C-Dur geschrieben. Hier spürte man die säuselnden Winde der Rheinauen, aber auch den derben Humor der Rheinländer, der sich im dritten Satz, nicht schnell vorgegeben, nahtlos fortsetzt.
Clara Schumann meint dazu, dass diese zwei Sätze auch für den Laien „leicht zugänglich“ seien. Recht hat sie.
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Paavo Järvi (Foto: Christoph Ruckstuhl) |
Vom Requiem zum rheinischen Frohsinn
Der vierte Satz allerdings, mit feierlich betitelt, scheint Rätsel aufzugeben. Er wechselt zu tiefschwarz, ins es-Moll, und gleicht einem Requiem. Schumann wollte hier den „Charakter einer Zeremonie“ gestaltet haben. Aber bahnt sich hier bereits die persönliche Tragik an? Sind hier bereits die düsteren Vorboten seines Schicksals enthalten? Das Orchester verfällt in ein majestätischen Schreiten, so als ob es den Gang zur Grabstätte begleitete. Sehr intensiv und erschaudernd.
All das wird wird abrupt über Bord geworfen. Denn attacca geht es in den Schlusssatz. Lebhaft in der Tempovorgabe, und von ausgelassenstem rheinischen Frohsinn beseelt. Man tanzt zu Wein und Worscht, die Jagdhörner rufen und es fühlt sich zuweilen an, wie in den Kölner Karneval versetzt.
Mit Jubelgesang wird das Finale des Rondos, oder ist es ein Sonatensatz? eingeleitet und die Sinfonie endet in einer furiosen Stretta und zwei gewaltigen sforzato-Schlägen von Pauke und Blechen.
Ein Aha-Erlebnis
Bravissimo, mehr gibt es kaum zu sagen. Der sichtlich erlöste Paavo Järvi ließ sich nicht lange bitten und kredenzte noch zum Abschluss mit seinem bestens aufgelegten Tonhalle-Orchester Zürich den Ersten ungarischen Tanz von Johannes Brahms.
Eine Art Gutmachung für die Änderung des Programms (?), aber auch eine ganz eigenwillige Interpretation mit viel accelerando und ritardando, plötzlichen Fermaten und heftigen Tempowechseln. Einfach klasse, und trotz Ohrwurm und vielfacher Repertoire-Zugabe auch anderer Orchester, ein ganz neues Aha-Erlebnis.
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Paavo Järvi, Vikingur Ólafsson, Tonhalle-Zürich Orchester (Foto: Andrea Etter) |
Was will man mehr?
Ein Winke, winke des Maestro und er verschwand endgültig hinter der Bühne.
Ein gewohnt perfekt eingespieltes Tonhalle-Orchester Zürich (es besteht seit 1868 und Paavo Järvi ist sein elfter Chefdirigent), ein sparsam dirigierender Paavo Järvi und ein großartiger, immer perfekter werdender Víkingur Ólafsson. Was will man mehr?
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