Sonntag, 27. April 2025

Die Stumme von Portici (La Muette de Portici), Grand Opéra in fünf Akten von Daniel François Esprit Auber, nach einem Libretto von Eugène Scribe und Germain Delavigne, Staatstheater Darmstadt, 26.04.2025 Premiere

v. l.: Lilith Maxion, Franziska Dittrich
Fotos: Benjamin Weber

"Napoleonische Zeit"

Die Stumme von Portici gehört wohl zur einzigen Opernproduktion, die es schaffte, eine Revolution auszulösen. Zur Zeit ihrer Entstehung (sie wurde am 29. Februar 1828 in der Pariser Oper mit durchschlagendem Erfolg uraufgeführt) herrschte europaweit allgemeine Aufbruchstimmung. Stichwort: Napoleonische Zeit. Nichts schien im Lot zu sein, die alten Feudalherrschaften rangen um ihre weitere Existenz und die neuen bürgerlichen Bewegungen waren noch nicht mächtig genug, die Geschicke in ihre Hand zu nehmen. Parallel zu dieser gesellschaftspolitischen Lage war das Opernsujet der Grand Opéra ein ideales Genre, diese Stimmungen aufzugreifen und musikalisch wie theatralisch zu verarbeiten.


Opernchor trägt Stumme (Puppe) 

Ein Hollywood-Drehbuch

Dass diese Oper zwei Jahre nach ihrer Uraufführung in der Brüsseler Oper, am 23. August 1830, das Publikum in solche Erregung versetzte, dass es zur Tat schritt, den Palast des Polizeidirektors stürmte, das Justizministerium besetzte, die Druckerei des Regierungsblatts verwüstete, und zum Ausgangspunkt der belgischen Revolution führte, die die Sezession von der holländischen Besatzungsmacht erreichte, ist ein Kuriosum und eigentlich nur einer sehr konkreten politischen Situation zuzuschreiben.

Denn im eigentlichen Sinne ist diese Oper absolut unpolitisch konnotiert (übersetzt in deutsch: Peter Kaiser). Die äußeren Umstände der persönlichen Dramen sind allenfalls packender Beigeschmack, einem Hollywood-Drehbuch vergleichbar.

Komponisten wie Giacomo Meyerbeer, Jacques Offenbach, Gioachino Rossini, oder auch, mit Abstrichen selbstverständlich, Richard Wagner, hatten die Opernwelt revolutioniert, indem sie historische Ereignisse in ihr Sujet aufnahmen, sie mit großangelegten Inszenierungen und spektakulären Bühneneffekten in Liebe, Drama und Wahnsinn transformierten, und somit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen konnten. So auch Daniel François Esprit Auber (1782-1871).


Bühne hinter der Bühne auf Video: Megan Marie Hart
im Vordergrund:
Eugène Scribe?

Eine Oper für Bürger und Aristokraten

Mit der Die Stumme von Portici, die sich auf ein historisches Ereignis in Neapel aus dem Jahre 1674 bezieht (die Neapolitanischen Fischer revoltieren gegen die spanische Besatzung ihrer Stadt wegen einer ungerechtfertigten Steuer auf Obstwaren und übernehmen die Regierung für ganze zehn Tage, ehe sie durch die spanische Soldateska niedergeschlagen werden, mit furchtbaren Folgen), schafft Auber wohl seine erfolgreichste Schöpfung mit allein 500 Aufführungen in Paris bis zur Jahrhundertwende, und über 1000 weltweit. Das Libretto der beiden damals berühmten Librettisten Eugène Scribe (1791-1861) und Germain Delavigne (1790-1868) allerdings fokussiert dieses Ereignis auf eine unglückliche, ja dramatische Dreierbeziehung zwischen dem Sohn des Vizekönigs Alphonse, seiner zukünftigen Gattin und spanischen Prinzessin, Elvire, und der Stummen von Portici, Fenella (Portici, übrigens der Name des Fischerorts und Ausgangspunkt der Revolte), die wohl von Alphonse verführt wurde, aber mit gegenseitigem Einverständnis.


Eine Tragödie mit viel Spektakel

Das gesellschaftliche Gefälle macht es allerdings unmöglich, das Fischermädchen Fenella statt der Prinzessin zur Frau zu nehmen. Die Handlung dokumentiert diesen Konflikt mit gewaltigen Choreinlagen, großen Arien der Protagonisten (wozu auch deren Helfershelfer wie Pietro und Borello, Fischer aus Portici, Masaniello, der Bruder der stummen Fenella, sowie Selva und Lorenzo, Leibwächter Alphonses, zu zählen sind) und einem tragischen Finale.

Masaniello und die Fenella sterben den Heldentod: Er, indem er Elvire vor der Lynchjustiz der Meute rettet, und sie, die sich den Lavafluss des Vesuvs stürzt, im Glauben, ihren Geliebten Alphonse verloren zu haben.

Überleben werden Alphonse und Elvire. Wie, das bleibt der Fantasie des Rezipienten der Oper überlassen.


Matthew Vickers, Opernchor

"Dem revolutionären Funken nachspüren"

Das Opernteam des Staatstheaters Darmstadt hat diese Inszenierung, wie es heißt, vom Staatstheater Kassel übernommen, wo dieses Werk 2022/22 auf dem Spielplan stand (Wir erinnern uns: In dieser Zeit waren über Monate die Theater wegen der Corona-Krise geschlossen). In Darmstadt ist Paul-Georg Dittrich für die Regie verantwortlich, bekannt für seine Fidelio- (2019) und Otello- (2024) Inszenierungen. Dieses Mal, so seine Absicht, wolle er 'dem revolutionären Funken nachspüren' und hat dazu Darmstädter Bürger eingeladen, 'revolutionäre Gedanken und utopische Ideen' zu erzählen.

Diese Inszenierung, das sei vorweggenommen, weicht an vielen Stellen diametral von der Urfassung ab, was eigentlich zu verantworten wäre, wenn, ja wenn die Idee der Oper, nämlich eine Tragédie Lyrique sein zu wollen, eingehalten würde. Aber nein.

Er und sein Team um Sebastian Hannak (Bühne), Anna Rudolph (Kostüme), Heiko Steuernagel und Marie-Luise Fieker (Licht) sowie Kai Wido Meyer (Video), Alice Meregaglia (Chor) und Johannes Zahn (musikalische Leitung), versuchten, dieser Grand Opéra einen aktuellen Nimbus aufzuzwingen, was, das sei vorweg festgehalten, gründlich misslang.


Ricardo Garcia, Puppe mit Franziska Dittrich

Zwei Stumme mit Puppe

Die Stumme von Portici wird eigentlich durch eine Tänzerin oder Mimin verkörpert. Hier waren es zwei junge Frauen, die eine Gliederpuppe mit sich herumtrugen. Nicht gerade professionell, sondern eher linkisch. Auch konnte diese Idee nicht durchgehalten werden. So erschien während der Ouvertüre, die stark an Franz von Suppés (1819-1895) Dichter und Bauer (1846) erinnerte, eine sichtlich gelangweilte Stumme alias Fenella, die sich mit Videospielen die Zeit vertrieb. Angeblich sollte die Bühne ihr Gefängnis darstellen, denn Alphonse wollte nicht, dass seine Liebschaft mit ihr bekannt würde. Sei´s drum.

Im ersten Akt beginnt die Szenerie mit den drei Stummen. Aber im Finale, dem fünften Akt passte das auch nicht mehr, und die Stumme alias Fenella wurde wieder menschlich. Über diese Idee lässt sich trefflich streiten. Überzeugend war sie wohl kaum.


Mitte: Lilith Maxion, Franziska Dittrich mit Puppe,
ganz rechts: Johannes Seokhoon Moon,
Statisterie, Opernchor 

Verwirrung durch Überfrachtung

Dann waren die einzelnen Akte kaum voneinander zu unterscheiden und gingen fließend ineinander über. Auch das ist durchaus erlaubt. Aber Auber hat seine Akte kurz und prägnant fixiert und jeden Akt mit einem musikalischen, chorischen oder gesanglichen Höhepunkt enden lassen. Hier war man eher verwirrt, wenn beispielsweise plötzlich die Bühne vom Palast im ersten Akt, während der Koloraturarie von Elvire, mit lautem Getöse zur Kirche umgebaut wurde. Und das ist nur ein Beispiel von vielen anderen.

Der zweite Akt, gespielt bei den Fischern, einer der vielen Höhepunkte, und mit dem Rache-Duett von Pietro und Masaniello wohl Ausgangspunkt der „Belgischen Revolution“, wo das Publikum gerufen haben soll: „Aux armes! Aux armes!“ (Zu den Waffen!), wird unversehens zu einem Video Bühnenspiel umgewandelt. Ein Spiel hinter den Kulissen, wo Alphonse und Elvire streitend und in englischer Sprache die Frage nach Liebe, Treue, Sinn und Verantwortung stellen. Ein Spiel im Spiel zwischen Regie und Librettist (sollte es Scribe sein?) und den beiden Liebenden. Die Dramaturgie schien nicht zu passen. Man wiederholte die Versöhnungsszene vor kleinem staunenden Publikum mehrmals. Warum das? Fragen über Fragen.

Georg Festl

Ziemlich erschlagen

Da jetzt alles ein bisschen undurchsichtig und verwirrend wurde – kurze Liedeinspielungen wie Bella ciao oder Die Gedanken sind frei, sollten wohl Entspannung liefern – befand man sich unversehens vor dem Brüsseler Opernhaus. Eine bunte Pappmaschee Fassade mit Chor/Publikum und Bühnendarsteller. Sollte es den Brüsseler Aufstand darstellen? Kolossal-Gemälde von Eugène Delacroix (1798- 1863), wie Die Freiheit führt das Volk, oder Schlachtgetümmel mit Napoleon auf dem Pferd wurden von der Bühnendecke herabgelassen. Dazu Texteinblendungen, um nicht gar gänzlich Verwirrung zu stiften, trugen eher zu dieser bei, und man war am Ende des ersten Teils, nach gut eineinhalb Stunden schon ziemlich erschlagen.


Gnadenlose Längen

Der zweite Teil, noch einmal um ein Vielfaches länger (die Premiere dauerte sage und schreibe drei Stunden und vierzig Minuten, gut eine Stunde länger als vorgesehen) sollte dann dieser Inszenierung im wahrsten Sinne den Rest geben. Der Aufruhr der Masse ist in vollem Gange, doch eher statisch realisiert, und kaum als solcher wahrzunehmen. Einzig die Musik schmettert ihre Rhythmen und lässt im Marschtempo eine Unruhe erahnen.

Mit Life-Videos, unter anderem von einer 2x2 Meter großen Holzbühne aus, mitten im Parkett postiert, werden jetzt Bilder direkt auf zwei große Leinwände projiziert. Man schaut den Sängern und der Sängerin unmittelbar in die Augen. Die Stumme als Puppe wird langsam seziert, ihr Kopf und ihre Glieder vom Rumpf getrennt (warum das?). Auch wird wohl auf dem Georg Büchner-Platz, die freie Fläche vor dem Staatstheater, ein wichtiges Dokument geborgen. Ist es Georg Büchners berühmte Schrift „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“? Man weiß es nicht, ahnt es nur.


Video: Georg Festl, Chor und Bürger der Stadt Darmstadt

Unaufgeklärte Aufklärung

Auch befinden sich jetzt Darmstädter Bürger (hier: Bürger:innen) auf der Bühne und unterbrechen, auf mehrere Tische verteilt, den eigentlich stürmischen Fortgang der Handlung, durch lange Sentenzen über Politik, Menschlichkeit, und Ach,-was-weiß-ich-noch. Ein Kaleidoskop des betreuten Denkens in  Endlosschleifen. Man fühlt sich als aufgeklärter Mensch im Publikum ein wenig verhohnepipelt, wenn dann eine Bürgerin im Ernst meint, festzustellen zu müssen, die „Menschenrechte gelten für Frauen und Männer“. Nein liebe Frau, Sie gelten für alle Menschen und nicht nur für Frauen und Männer.


Woker Unsinn

Kurz: Der Wokeismus treibt auf der Bühne fröhliche Urständ, und merkt nicht, wie das Publikum rumort, bei so viel Unsinn auf einmal.

Der Rest ist schnell erzählt. Die Texteinblendungen mehrten sich zunehmend, um die mangelhafte Inszenierung einigermaßen zusammenzuhalten. Die vielmals wiederholte historische Zeitschiene war absolut überflüssig, und rechnete vermutlich mit der Dummheit des Publikums, wie vieles andere mehr. Aufklärung geht anders. Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger.


Video: Matthew Vickers, Bürger der Stadt Darmstadt


Glanz – kammermusikalisch – grundsolide – d´accord

Die Akteure auf der Bühne gaben nichtsdestotrotz ihr Bestes. Allen voran Megan Marie Hart (Sopran) als Elvire. Sie stach mit ihrer dramatischen Stimme absolut heraus. Ebenso glänzte sie durch wunderbare Koloraturen und einer fast schon Glas splitternden Schärfe in den höchsten Höhen.

Ricardo Garcia als Alphonse (Tenor) konnte sich mit seiner kammermusikalischen lyrisch schönen Stimme gegenüber dem Orchester kaum behaupten, war aber dennoch ein Lichtblick im Kreis der Sängergarde.

Matthew Vickers als Masaniello (Tenor), spielte überzeugend, konnte aber den gesanglichen Anforderungen seiner Rolle kaum gerecht werden. Seine Stimme verließ ihn im vierten Akt dann gänzlich.

Dann seien noch Georg Festl (Bassbariton) als Pietro, eine der ausdrucksstärksten Männerstimmen an diesem langen Premierenabend, und die grundsoliden Zaza Gagua (Bariton) als Borella sowie Johannes Seokhoon Moon (Tenor) als Selva zu nennen.

Der Chor des Staatstheaters Darmstadt unter der Leitung von Alice Meregaglia, war zwar schauspielerisch kaum präsent, dafür aber stimmlich d´accord.


Filmmusik im besten Sinne

Die Musik, für großes Orchester geschrieben, steckte voller Klischees, Hollywood ließe grüßen, und erfreulich lebendig, mitunter sogar mitreißend, was dem Staatsorchester Darmstadt unter der Leitung von Johannes Zahn prächtig gelang. Man hörte Verdi, Meyerbeer und sogar Wagner. Auch Leitmotive und klare Zuordnungen von Instrumenten zu den einzelnen Personen konnten herausgehört werden. Wie gesagt, Franz von Suppé, Jacques Offenbach und Johann Strauss Senior hätten ihre Freude gehabt bei so viel Marsch, Walzer, Barcarole, Menuett und den damals beliebten Tanzrhythmen wie Galopp, Quadrille oder Polka. Auch die Dramaturgie war in der Lage, die Gemüter aufzuwühlen, insofern kann Daniel Auber, der nahezu 50 Opern zu seinen Lebzeiten schrieb, durchaus als Hans Zimmer oder John Williams seiner Zeit gelten.


Lilith Maxion, Bürger der Stadt Darmstadt, Losung aus Samuel Becketts "Worstward Ho" 

Buhrufe – eine Katastrophe

Ja, Die Stumme von Portici alias Fenella: Als Dreigestirn mit Franziska Dittrich und Lilith Maxion, war dieser Versuch keine so gute Idee. Hier ist bereits alles gesagt.

Das Finale, eigentlich der Ausbruch des Vesuvs und das tragische Ende der Fenella und ihres Bruders Masaniello reduzierte sich auf das Absinken und das Verdunkeln der Bühne, ergänzt durch einen Hauch von Aschenbildung (Nebelmaschine) durch den Vulkan. Wenn die Musik nicht gewesen wäre ...

Buhrufe en masse war die Antwort einer großen Mehrheit aus dem Publikum. Der Schreiber dieser Zeilen verließ erschrocken bzw. geschockt den Saal. Nicht wegen des dramatischen Inhalts, sondern wegen der mangelhaften und übergriffigen Inszenierung.

Warum diese Überfrachtungen, warum diese schrecklichen woken Texteinlagen der „Darmstädter Bürger:innen“, warum die opernfremden Zwischenspiele und zig Videoeinblendungen, warum die langen Texte über den Sinn der Oper, der „Anti-Oper als Ideenhimmel“, und weiß Gott noch was? Warum die Zerstückelung einer so kompakten Grand Opéra in tausend Nebenschauplätze? Noch Vieles mehr wäre zu bemängeln. Leider bleibt, abgesehen von den genannten Sängern (vor allem Megan Marie Hart), einzelnen Chorpartien und der Musik, wenig bis nichts, was für diese Inszenierung spricht. 

Fazit: Diese Inszenierung, das muss leider gesagt werden, ist eine Katastrophe und sollte noch einmal gründlich überdacht werden.

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