Hessisches Staatsballett feiert mit Chronicles sein 10-jähriges Bestehen, Staatstheater Darmstadt, 17.04.2025
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The Mass Ornament (Foto: Andreas Etter) |
Außergewöhnliche Reise des internationalen Erfolgs
Am 17.10.2014 hob sich der Vorhang für die allererste Vorstellung des Hessischen Staatsballetts und setzte den Startschuss für eine außergewöhnliche Reise des internationalen Erfolgs.
Heute, gut 10 Jahre später, blickt man mit Chronicles nicht allein zurück auf eine erfolgreiche Vergangenheit, sondern schaut zuversichtlich nach vorne. So schreibt Bruno Heynderickx, der Direktor der Kompanie: „Chronicles zeigt die ganze Vielfalt des zeitgenössischen Tanzes und die Einzigartigkeit unserer Tänzerinnen und Tänzer, dies zu verkörpern.“
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FAUNO (Foto: Andreas Etter) |
Ein bisschen Gym-Atmosphäre
Chronicles, bereits im Februar dieses Jahres in Wiesbaden mit großem Erfolg aufgeführt, besteht aus sechs Tanzperformances, von insgesamt sieben Choreographen komponiert, alle zwischen elf und siebzehn Minuten Dauer, die in einem dreiteiligen Abend vorgestellt werden. Das bedeutet nach jedem zweiten Stück eine gut 20 minütige Pause .
Große Erwartungshaltung im vollbesetzten großen Saal des Darmstädter Staatstheaters. Der Abend beginnt mit FAUNO von der portugiesischen Choreographin Liliana Barros. Wie der Titel bereits andeutet, eine Auseinandersetzung mit der Musik von Claude Debussys Prélude à l´apres-midi d´un faune (1894) und natürlich ebenfalls mit der tänzerischen Inspiration von Vaslav Nijinsky (1889-1950) aus dem Jahre 1912. Eine Extraarbeit für das Hessische Staatsballett wiewohl auch eine erste Zusammenarbeit mit der Kompanie.
Zwölf Minuten lang bilden vier Männer in Gym-Manier (Turnschuhe, Boxershorts und Muskelshirts) ein starkes Team, das gegeneinander aber auch miteinander streitet. Extrem kontrastierend zu der vom Tonband gespielten wunderbar fließenden impressionistischen Musik.
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Force Majeure (Foto: Andreas Etter) |
Faustischer Pakt
Mit Force Majeure (höhere Gewalt) der beiden kanadischen Choreographen David Raimond &Tiffany Tregarthen setzt sich der Performance-Abend fort. Die Bühne ist in Dunkelheit gehüllt, lediglich eine Lampe lässt gezielt ein Paar erkennen. Das seit 2004 zusammenarbeitende Künstlerpaar möchte das Ausgesetzt-Sein des Menschen an die Kräfte des Kosmos thematisieren. Langsam werden die insgesamt 13 Tänzerinnen und Tänzer sichtbar, sind vor einer grauschwarzen erdrückenden Wand um einen Tisch gruppiert, auf dem ein Baumgerippe liegt. Die geistige Verbindung zu einer rituellen Versammlung lässt sich kaum vermeiden.
Die schwarzen und weit ausladenden Roben werden sukzessive abgelegt, und halbnackte Körper tanzen bei minimalistischer, an Eric Satie erinnernde Klaviermusik (Waldemar Martynel, Klavier), aus den Händen der zeitgenössischen französischen Komponistin Angèle David-Guillou. Ein 17-minütiger faustischer Pakt von Ordnung und Chaos, von Schöpfung und Zerstörung.
Stimmig hier allenfalls die Harmonie zwischen Licht (Tanja Rühl), Bühne und Requisiten (beide von den Choreographen), aber ansonsten eher verstörend und viele Fragen offen lassend.
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Bouffées (Foto: Andreas Etter) |
Ein Kraftakt des Atmens
Nach der ausgedehnten ersten Pause folgte das preisgekrönte Bouffées (übersetzt: Hitzewallung, Anfall). Fünf Frauen in langen Blumenkleidchen kreieren ohne Musik (die wurde von den ständigen Hustenanfällen aus dem Saal gemacht, aber gar nicht witzig) ihre Zerbrechlichkeit und Stärke, wie auch ihre rohe Energie.
Alles beginnt mit minimalen Armbewegungen und endet in einer Fallsucht par excellence bei fast schon unmenschlicher Atemtechnik: zweimal lang und dreimal kurz. Die Frauen stöhnen fallen und stehen wieder auf. Und das mehr als fünf Minuten ihrer 13-minütigen Aufführungszeit.
Dieses Stück von der Französin Leila Ka zusammengestellt, besteht bereits seit 2022 und erhielt den ersten Preis beim internationalen Wettbewerb Danse Èlargie des Théâtre de la Ville de Paris. Die Idee ist bemerkenswert, der Kraftakt der Aktreusen noch mehr.
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Holding Space (Foto: Andreas Etter) |
Dichotomie zwischen Vertikale und Horizontale
Holding Space schließt den zweiten Teil des Abends ab. Anouk van Dijk schuf mit dieser Performance ihre erste Kurzproduktion von knapp 13 Minuten für das Hessische Staatsballett. Eingebunden das Ganze in die Musik der US-Komponisten David Lang (*1957) und Steve Reich (*1936). Beide bekanntlich sehr minimalistisch orientiert, wobei das Violinsolo von David Lang After Sorrow (2018) mit raumgreifenden ostinaten Arpeggien eher den vertikalen und Reichs Duet for two Solo Violins (2015) eher den horizontalen Part abdeckte (Solisten: Wilken Ranck und Sarah Müller-Feser)
Die Absicht der Choreographin auch hier, die Dichotomie von Freiheit und Ordnung, wie von Chaos und Kontrolle zu dokumentieren. Ein riesiges Gitter, in dem die drei Tänzer stehen, wird hochgezogen und soll wohl Enge versus Freiheit symbolisieren.
Wunderbare Lichtspiele, sehr luftige und fantastische Hosen der drei Tänzer (eine Frau), aber insgesamt doch eine klaffende Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Warum das Gitter wieder abwärts gesenkt wird, bleibt ein Geheimnis, schließt aber diese Performance zumindest strukturell logisch ab. Die Pause sorgte für viel Diskussionsstoff
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Moonfall (Foto: Andreas Etter) |
Wenn alles stimmt
Kommen wir zum Abschluss das Abends, und der konnte doch vieles ins versöhnliche Licht rücken. Zunächst Moonfall von der serbisch-niederländischen Choreographin Dunja Jocić. Sie setzt sich hier mit Extremsituationen auseinander.
In knappen elf Minuten kreieren zehn in weiß gekleidete Tänzer, in enge Gurte eingeschnürt, ein wenig Sadomaso-Outfit, mit hektischen Bewegungen mal in Gruppen mal solistisch, ausgesprochen komplexe Choreo-Muster bei der Musik von Michael Gordon (*1957) und Renger Koning (*1959).
Gordon verfremdet geschickte, mit schrägen Tonfolgen, Teile aus dem ersten Satz der Sinfonie Nr. 7 von Ludwig van Beethoven, und Koning, bekannt als Filmkomponist, lässt in seinem Whole´s Gone Missing, extra für das Hessische Staatsballett geschrieben, die Militärtrommel mit martialischen Rhythmus dominant hervortreten.
Eine starke Performance mit herausragenden Tanzfiguren, passender Musik und klarer Regie. Hier stimmte einfach alles.
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The Mass Ornament (Foto: Andreas Etter) |
Zwischen Individualität und Masse
Das Finale sollte zwar keinen mehr daraufsetzen, war aber ebenfalls ein Hingucker und Hinhörer. Angelehnt an den Essay Das Ornament der Masse (1927) des Mitglieds der Frankfurter Schule, Siegfried Kracauer (1889-1966), entwickelte der spanische Choreograph Fran Diaz seine Kurzkreation gleichen Namens, The Mass Ornament.
Ein gesellschaftskritisches Stück sollte es sein, in dem die Revue als typische kapitalistische Verwertungskultur unter die Lupe genommen wird. Ähnlich der bekannten Revue-Formationstänze in langen Reihen und im Gleichschritt mit synchron gestalteten Bewegungsmustern (Diaz vergleicht es auch mit dem Musical A Chorus Line von 1985), bestand dieses 12-minütige Finale zunächst aus scheinbar chaotischen Einlagen einzelner Tänzer, begleitet oder gar bestimmt von der Musik des polnischen Komponisten Hénryk Górecki (1933-2010), hier sein Konzert für Cembalo (1980) und einem Interludium von Tom Foskett-Barnes (*1994).
Foskett-Barnes Musik besteht eher aus spannungsgeladenen Flächen, während Góreckis Konzert, zweigeteilt in Allegro und Vivace, eher einen bewegenden, schnellen Fortgang charakterisiert.
Alle dreizehn Tänzerinnen und Tänzer waren noch einmal auf der Bühne vertreten, in martialischen Kampfanzügen und irgendwie auch von roher Energie beflügelt. Ein starkes Stück, das der Choreograph extra für dieses Jubiläum konzipiert hat.
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Schlussapplaus: Tänzerinnen und Tänzer vorne: v. l.: Waldemar Martynel, Sarah Müller-Feser, Wilken Ranck Foto: H.boscaiolo |
Zeitgenössische Show der internationalen Tanzszene
Das Publikum, sehr unruhig und vom permanenten störenden Husten geplagt, war restlos begeistert. Ein Jubiläum, das tatsächlich einen interessanten Einblick in die internationale Tanzszene 2025 bot. Alle sieben Choreographen versuchten zumindest, Natur – Kosmos – Harmonie – Auflösung – Selbstzweifel, allgemein: Weltbezug herzustellen.
Ihre Wege changierten zwischen der Suche nach Identität, der Kontrastierung von Zerbrechlichkeit, Widerstandskraft und roher Energie. Spannungsbögen zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, aber auch zwischen Individualität und Kollektivität waren in allen Performances zu erkennen. Mal besser mal schlechter gelungen, aber insgesamt doch der Kunst absolut würdig.
Die Musikauswahl (Verantwortlich die Choreographen), die Dramaturgie (Lucas Herrmann), das Orchester des Hessischen Staatsorchesters Darmstadt unter der Leitung von Alice Meregaglia, und selbstverständlich die dreizehn Tänzerinnen und Tänzer, konnten allesamt absolut überzeugen und boten eine wirklich zeitgenössische Show der internationalen Tanzszene.
Man wünscht dieser Company weitere zehn Jahre und mehr.
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