Johannes-Passion, Oratorische Passion von Johann Sebastian Bach, gespielt vom Ensemble Pygmalion unter der Leitung von Raphaël Pichon, Alte Oper Frankfurt, 12.04.2025 (eine Veranstaltung der Frankfurter Bachkonzerte e. V.)
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Raphael Pichon (Foto: Julia Wesely) |
Zwischen Traurigkeit und Verherrlichung
Gleich ein ungewöhnlicher Beginn dieser Oster-Passion. Ein Lied von Unbekannt aus dem Lutherischen Gesangsbuch: „O Traurigkeit, o Herzeleid!“ Ein Wechselgesang zwischen Chor und Tenor (hier von Laurent Kilsby von der Empore des vollbesetzten Großen Saals der Alten Oper gesungen und vom 19-köpfigen Chor des Pygmalion Ensembles in herrlichem Ton ergänzt), tief traurig, klagend und sehnend.
Ein Auftakt nach Maß möchte man meinen, denn sogleich antwortet das Ensemble im Tutti mit einer pochend-treibenden Eröffnung auf barocken Instrumenten, wie Viola da Gamba, Oboe d´amore und Oboe da caccia, zwei Traversflöten, Kontrafagott sowie Theorbe, Orgel und Cembalo, nebst Streichern. Insgesamt 24 Instrumentalisten.
Der Chor eröffnet die Passion mit einem Lobgesang und langen Melismen der Verherrlichung Gottes, ehe der Evangelist, hier der Tenor Julian Prégardien, nahezu direkt am Bibeltext des Johannesevangeliums entlang, chronologisch die Geschichte des Verrats, der Gefangennahme, der Leugnung durch Petrus, dem Verhör, der Verurteilung, der Kreuzigung und Grablegung Jesu Christi deklamierend vorträgt.
Das alles ohne Textvorlage und in bester Artikulation, Expression, zwischen Lyrik und Dramatik sowie mit gekonnt schauspielerischer Attitüde. Ein Genuss für Ohr und Auge.
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Raphael Pichon, Ensemble Pygmalion (Foto: H.boscaiolo) |
Eine Passion mit diversen Veränderungen
Bekanntlich ist die Johannes-Passion (BWV 245) die erste von insgesamt fünf Passionen (nur die Matthäuspassion ist davon noch erhalten) aus der Hand Johann Sebastian Bachs (1685-1750), die er zwar 1724 in der Leipziger Nikolai Kirche uraufführen ließ, aber in der Folgezeit mindestens viermal umgestaltete, sodass heute in der Regel ein Gemisch aus der zweiten (1730 ff.) und vierten (1749) zur Aufführung kommt, aber, wie gesagt, durch etliche Veränderungen im Ablauf aus der Hand von Raphaël Pichon (*1984) erweitert bzw. verändert wurde. Darunter das Eingangs Kirchenlied, wie auch zwei Kantaten aus Bachs Hand: „Sehet! Wir gehen hinauf gen Jerusalem“ sowie „Es ist vollbracht“ (BWV159) im ersten Teil sowie einer Motette von Jacobus Gallus (1550-1591) „Ecce quomodo moritur“, im zweiten Teil der Passion.
Aufgeteilt in zwei monumentale Teile endet der erste mit der Verleugnung Jesu Christi durch Petrus sehr ungewöhnlich. Statt, wie üblich, mit dem Choral: „Petrus, der nicht denkt zurück“, jetzt erst nach zwei herrlichen Arien des Bassbaritons Huw Montague Rendall (der die Rolle des Jesus sang) und der Altistin Lucile Richardot, beide ein gesanglicher Leckerbissen, mit dem Martin Luther Lied: „Christe du Lamm Gottes!“
Ein erster Teil der Passion, der bereits mehr als 70 Minuten in Anspruch nahm, aber nichtsdestotrotz ein begeistertes, ja im positiven Sinne sprachloses Publikum in die Pause schickte.
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links: Raphael Pichon, rechts: Huw Montague Rendall, Ensemble Pygmalion (Foto: H.boscaiolo) |
Ein filmreifes Spektakel
Der zweite Teil besteht aus drei Akten: das Verhör Jesu Christi durch Pontius Pilatus bis zu seiner Verurteilung, die Kreuzigung und abschließend die Grablegung Christi. Eine systematische Steigerung mit gewaltigen Turba-Chören (aufgeregter Volksaufruhr), gepaart mit einer dramatischen Auseinandersetzung zwischen Huw Montague Rendall und dem jetzt erstmals in Erscheinung tretenden Bassbariton Andreas Wolf, als Pilatus. Beide zwar in gleicher Stimmlage, aber durchaus in unterschiedlicher Qualität.
Rendall, voll schauspielerischem Glanz, in fast leidender, aber klarer, wohl artikulierter Tonlage, und Wolf in unglaublich kraftvoll, resonanter Stimmführung. Ein ungleiches Paar, aber beide Persönlichkeiten par excellence. Unterbrochen wurden sie durch wilde, wütende und fordernde Turba-Choreinlagen, wie: „Kreuzige, kreuzige!“ Oder: „Weg, weg mit dem …!“. Insgesamt 14 mal kreischen sie dazwischen.
Ein filmreifes Spektakel. Höhepunkt findet dieser Teil in der Verurteilung Jesu Christi zum Tode. Herausragend hier die Arie des Pilatus alias Andreas Wolf: „Eilt, ihr angefochtenen Seelen … nach Golgatha“, unterbrochen von fragenden Zwischenrufen des Chores: „Wohin?“
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v. l.: Raphael Pichon, Lucile Richardot, Huw Montague Rendall, Andreas Wolf, Ensemble Pygmalion (Foto: H.boscaiolo) |
Ergreifendes Moment
Zwei Choräle weiter (insgesamt sind es 12) hängt Jesus am Kreuz. Er singt leidend: „Es ist vollbracht!“ Ein bedrückender Augenblick und gleichzeitig der Höhepunkt der Passion, den interessanterweise die Arie der Lucie Richardot beendet. Mit herrlicher Kopfstimme, metrischen Wechseln und langen Melismen leitet sie zum Ecce quomodo moritur ("Sieh´, wie der Gerechte stirbt") über – vom Chor aus dem Off gesungen. Ein ergreifendes Moment, der tatsächlich eine große Abwärtsspirale einleitet.
Jesus alias Randall erscheint noch einmal im Hintergrund der Bühne und fragt in einer langen Arie seinen Gottvater nach der Erlösung der Welt: „Kann ich durch deine Pein und Sterben das Himmelreich ererben? Ist aller Welt Erlösung da?“
Angehängt werden jetzt noch zwei Arien des Tenors Laurence Kilsby: „Die Erde bebt, die Gräber spalten …! und der Sopranistin Ying Fang: „Zerfließe mein Herz … dein Jesus ist tot.“ Sie, die nur zweimal in der Passion in Erscheinung tritt, ist wirklich eine attraktive Ausnahmesängerin mit hellem glockigen Ton, voller Leichtigkeit und Eleganz. Man möchte sie tatsächlich öfter hören und sehen.
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v. l.: Andrea Wolf, Laurence Kilsby, Huw Montague Rendall, Raphael Pichon, Julian Prégardien, Ying Fang, Lucile Richardot Foto: H.boscaiolo) |
Nichts von Requiescat in Pace
Das Finale thematisiert die Grablegung Christi. Es ist ein kurzer Abschnitt, der von langen Erzählungen des Evangelisten, Julian Prégardien dominiert, von zwei Chorälen (11 und 12) sowie einem Schlusschor: „Ruhet wohl ihr heiligen Gebeine“ – eine mitreißende Motette, worin die drei Solisten, Ying Fang, Lucie Richardot und Andreas Wolf noch einmal zwischen Himmel und Hölle brillieren durften – gerahmt, und vom Jubelchoral: „ ... Erhöre mich, erhöre mich, ich will dich preisen ewiglich“, beschlossen wird.
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Raphael Pichon (Foto: Francois Sechet) |
Ein Mikrobeben im Saal
Grandios rezitiert und gesungen vom Ensemble Pygmalion (gegr.2006) unter der brillanten Leitung seines Gründers und musikalischen Leiters, Raphaël Pichon, ließ das höchst erregte Publikum nach dem Schlussakkord gleich von ihren Plätze aufspringen. Lautes Rufen, Jubelgeschrei, frenetisches Klatschen und Trampeln erfüllte den Saal und erinnerte unwillkürlich an die Worte des Evangelisten: "Und die Erde erbebete, und die Felsen zerrissen und die Gräber täten sich ...". Nach mehr als drei Stunden Dauer absolut verständlich. Nein, alles war perfekt, nichts wäre verbesserungswürdig.
Diese Performance der Johannes-Passion war für den Verfasser dieses Textes das Beste, was er an Passionen jemals miterleben durfte.
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