Ensemble Modern und das SWR Vokalensemble, musikalische Leitung: Ustina Dubitsky, Alte Oper Frankfurt, 16.05.2025 (6. Abonnementskonzert)
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Ensemble Modern, SWR Vokalensemble (Foto: H.boscaiolo) |
Textlastig und Inhalts-geschwängert
Ein textlastiger und inhaltsgeschwängerter musikalischer Abend sollte es im vollbesetzten Mozartsaal der Alten Oper Frankfurt werden. 21 Mitglieder des Ensemble Modern und 31 Sängerinnen und Sänger des renommierten SWR-Vokalensemble mit Sitz in Stuttgart boten zwei Uraufführungen von Christian Mason (*1984) mit The Oddity Effect für Chor und Ensemble, und von Johannes Maria Staud (*1974) mit Der Gesang der Weiden (2024), ein Extrakt aus seiner Oper Die Weiden, die 2018 in der Wiener Staatsoper uraufgeführt wurde. Dazu noch von Younghi Pagh-Paan (*1945) Hwang-To / Gelbe Erde (1988/89), sowie von Eivind Buene (*1973) ein reines Instrumentalwerk, aber mit ausgesprochenen textlichen Hintergrund, Possible Cities (2005).
Nebenbei bemerkt waren außer Pagh-Paan alle Komponisten anwesend und sogar der Librettist und Gedankengeber, David J. Griffiths (*1942), für Masons The Oddity Effect. Die musikalische Leitung des Abends lag in der sicheren und eleganten Hand von der noch sehr jungen, aber bereits preisgekrönten Ustina Dubitsky.
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links vorne: Ustina Dubitsky, Ensemble Modern, SWR Vokalensemble (Foto: H.boscaiolo) |
Seelenvoller Klagegesang
Alles begann mit Younghi Pagh-Paans Hwang-To / Gelbe Erde. Das 16-minütige Werk für Instrumentalisten und Chor (28 an der Zahl) handelt in drei Teilen von der verbrauchten Erde der geschundenen koreanischen Bevölkerung aus der Zeit der Diktatur unter Präsident Park Chung-hee (1917-1979) in den 1960/70er Jahren.
Sie stützt sich in ihrem Klagegesang auf Texte und Schriften von Kim Yong-il (1941-2022), der wegen angeblicher staatszersetzender Äußerungen zum Tode verurteilt, später auf lebenslänglich umgewandelt, und 1980 nach internationalen Protesten auf freien Fuß gesetzt wurde. (Man erinnere sich an die Affäre Isang Yun (1917-1995), der sogar aus Deutschland entführt, zum Tode verurteilt und wenige Jahre später, nach internationalen Protesten, Südkorea verlassen konnte).
Younghi Pagh-Paan verließ ihre Heimat schon früh, ohne ihren engen Bezug aufgegeben zu haben. Sie setzt die drei tief defätistischen Texte des Dichters – untergliedert in: Die Ebene, worin die Zerstörung der Erde beschrieben, in: Der Weg nach Seoul, worin die Landflucht der geschundenen Bevölkerung und in: In einer regnerischen Nacht, worin die Entwurzelung und Hoffnungslosigkeit beschrieben wird – in eine Musik um, die zwischen koreanischer Folklore, einem erzählenden Gesang (Pansori genannt), und moderner Polyphonie und Heteronomie changiert, und eine große Empathie wie tiefes Mitgefühl in Klangsprache und ergänzender Instrumentalsprache zum Ausdruck bringt.
Eine internationale Bedeutsamkeit
Dabei kommt die asiatische Fasstrommel, die Buk, zum Einsatz, aber auch die typischen asiatischen perkussiven Klangkörper wie Gongs, Rasseln und koreanische Trommeln.
Ein tieftrauriges Werk, das sie wegen der internationalen Bedeutsamkeit in koreanisch und deutsch singen lässt und das in lang gedehnten Melismen und kurzen fortschreitenden Syllabismen. Der Chor glänzt mit solistischen Einlagen und hervorragender Klangfülle. Ebenso die neun Instrumentalisten des Ensemble Modern, die, bestens abgestimmt, den Klagegesang mit größter Anteilnahme imitierten und ausgestalteten.
Ein resignativer und tief melancholischer Einstieg zwar, dafür aber von extrem klanglicher und interpretatorischer Schönheit.
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Ensemble Modern (Foto: H.boscaiolo) |
Die Natur siegt immer
Es folgte vom Norweger Eivind Buene Possible Cities. Ein 16-minütiges Werk für neun Instrumente. Dabei orientiert er sich den italienischen Schriftsteller Italo Calvino (1923-1985), der 1972 ein Buch unter dem Titel Die unsichtbaren Städte veröffentlichte, und darin in kurzen Erzählabschnitten das Werden und Vergehen von Städten beschreibt.
Buene, der Partituren gern mit Stadtplänen vergleicht – sie sind unhandlich und verlangen ein hohes Maß an Abstraktionsfähigkeit – versteht sich als Wanderer im Labyrinth der Städte, worin Ordnung wie Chaos herrscht und letztendlich die Natur immer Sieger bleibt: „Natur, die darauf wartet, die Kontrolle zu übernehmen und unsere Strukturen durch organische Wachstum auszulöschen.“
Seine Musik (der erste Teil eines Zyklus´) ist in vier Abschnitte gegliedert, die nahezu unbemerkt ineinander übergehen. Tatsächlich klingt der Anfang, voller Blue-Notes vom Klavier, unterbrochen von heftigen Schlägen auf Saiten und Holz, wie ein kryptisches Free-Jazzstückchen. Viele Triller und Stakkato Passagen, Tonflächen mit kurzen motivischen Einsprengseln wirken wie ein wirres Straßengeflecht, undurchschaubar und desorientierend.
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Mitte vorne: Ustina Dubitsky, Ensemble Modern (Foto: H.boscaiolo) |
Werdet wie die Kinder
Dann folgen Kinderlied-ähnliche Motivfolgen. Ist es ein Wiegenlied? Nein! Eher Katzenmusik von guter Qualität. Jetzt wird es hektisch. Cello, Bratsche und Kontrabass rasen virtuos über ihre Saiten und werden von Clustern des Flügels rhythmisch gerahmt. Und wieder ein Kinderlied, oder ist es aus Beethoven Eroica geklaut? Egal. Die Konsequenz ist eh absolut atonal und nervenaufreibend. Der Komponist spricht von „instabiler Masse“.
Die Stadt ist zerstört, die Natur holt sich ihr Recht zurück. Glissandi, Triller, Tremoli und Vibrato in absoluter Lautstärke beherrschen den Schlusspart und lassen den Zuhörer mit offenen Fragen zurück.
Vergessen – Hass – Intoleranz
Etwas erholsamer, aber dennoch von enormer Expressivität, das kurze aber intensive Chorstück Gesang der Weiden von Johannes Maria Staud.
Es ist ein sieben-minütiger neu gedachter und umgearbeiteter Extrakt (deshalb auch eine Uraufführung) aus seiner erfolgreichen Oper Die Weiden von 2018. Der a capella gehaltene 16-stimmige Gesang, in der Oper von einem Trupp Deportierter gesungen, handelt, nach dem Libretto von Durs Grünbein (*1962), von der Vergesslichkeit des strömenden Wasser und stellt die Frage, „warum die Menschen, schneller als alle Wasser vergessen und hassen“ können. Antwort: „Das weiß keiner, zu sagen keiner.“
Staud allerdings bezieht den Inhalt auf den Rechtsruck in Europa und auf die Tendenz, in den selbst verantworteten Horror zu verfallen: „Ein Horrortrip ins Herz der Finsternis“ schreibt er dazu. Das Gedicht allerdings ist allgemein gehalten und macht tatsächlich ein aktuelles Problem sichtbar: Nämlich das Vergessen und gleichzeitig die gewaltsame Intoleranz derjenigen, die zu wissen glauben.
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vorne links: Johannes Maria Staud, SWR Vokalensemble (Foto: H.boscaiolo) |
Der Strom – das wahre Gesicht
Der Gesang beginnt im Unisono der Tenöre und wird Kanon artig von den übrigen Stimmen aufgenommen. Auch hier wechseln wieder melismatische und syllabische Elemente. Große Teile der acht Strophen werden gesprochen und unterbrochen von solistischen Einlagen. Wichtige Aussagen oder Begriffe wie Wasser, Mörderrevier, Strom oder Vergessen werden explizit hervorgehoben und in langen Melismen ausgedehnt. Der Sopran singt in sehr hohem Diskant die Schlussstrophe: „Der Strom zeigt sein wahres Gesicht.“ Und der Chor ergänzt: „Wenn dann.“
Ein hörenswertes und eindrückliches Werk von einem brillanten, stimmgewaltigen Vokalensemble interpretiert.
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Ensemble Modern, SWR Vokalensemble (Foto: H.boscaiolo) |
Nach einer langen, erholsamen Pause, dann das Abschlusswerk und gleichzeitig auch die Uraufführung von Oddity Effect (auf deutsch etwa: aus der Masse treten und Opfer von Fressfeinden werden) von Christian Mason. Auch dieses Werk orientiert sich literarisch an den amerikanischen theoretischen Physiker, Paul J. Griffiths (*1942), der die These aufstellt, der Mensch gehe gern in der Masse unter, und derjenige, der aus ihr heraustrete, werde unwillkürlich Opfer von „Fressfeinden“. Im Klartext: Er wird Opfer von Kritikern oder Feindmächten.
Viele offene Fragen
Wie auch immer: Griffiths, der Librettist dieser Vokalsinfonie (oder ist es ein modernes Oratorium?), beschäftigt sich mit dem Antagonismus von Masse und Individualität und vergleicht das menschliche Leben mit dem der Fische, Kühe oder auch der Vögel, die es doch vorziehen, in der Ordnung der Masse unterzugehen. Was aber mit den Einzelgängern, den Raubtieren etc. ist, das fällt aus seinem Psychogramm heraus. Ebenfalls die Tatsache, das die menschlichen Gesellschaften heute überwiegend aus Einzelgängern, ja Narzissten bestehen, was in der Tierwelt so nicht der Fall ist. Viele Fragen, keine Antworten.
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Christian Mason, Ustina Dubitsky, Ensemble Modern, SWR Vokalensemble (Foto: H.boscaiolo) |
Suche nach dem Paradies
Die Musik ist tatsächlich wie eine große viersätzige Sinfonie organisiert: in Allegro, Elegie, Scherzo, Allegro molto und einer ausgedehnten Coda als Epilog. Man könnte aber auch von Ouvertüre, Herde 1 (herde), Herde 2 (flock), Herde 3 (Crowd) und Herde 4 (Crowd / Epiloque) sprechen.
Keine textliche Eindeutigkeit erwartet den Leser, sondern eine graphische Gestaltung des Inhalts voller kaum lesbarer Kreise mit Unterteilung der einzelnen „Akte“ in first state (erster Zustand), Drama, und second state (zweiter Zustand). Es folgen sich zuspitzende oder sich drehende scheinbar zusammenhanglose Sätze, wie: „We graze on the green Gras“ oder „calm eyes watchful“ und viele dieser Sentenzen mehr.
In der vierten Szene dann (bzw. im vierten Akt) wird in deutscher Sprache skandiert. Hier kommen jetzt Personen und Parteien vor. Beispiel: Putins Ideologie Folie (wobei Putin alles andere als Ideologe ist) oder AfD Äußerung alarmiert Geheimdienst (obwohl der Geheimdienst eigentlich zur Alarmbereitschaft auffordern müsste). Sei es drum. Viele Sätze, dafür wenig Inhalt. Und doch endet dieser Akt mit dem utopistischen Satz: „Wir müssen neue Paradies erfinden …“ Das alles mit orchestraler, mitunter extrem anspruchsvoller Begleitung, und chorischer Variabilität, die seinesgleichen sucht.
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links vorne: Christian Mason, Ustina Dubitsky, Ensemble Modern, SWR Vokalensemble (Foto: H.boscaiolo) |
Bis zur Erschöpfung
Der abschließende Epilog lässt noch einmal alles aus den Fugen geraten. Die Frage „Who are you?“, übrigens in allen Akten immer wieder durch einzelne Solisten gestellt, wird durch Begriffe wie „dumme Fragen“, „Dummkopf“, „Hau ab“, bis zur kaum noch erträglich Lautstärke (hier gulp 4 = vierfaches forte) getrieben. Die Sänger jagen ihre Stimmen durch Megaphone und die Instrumentalisten hauen auf ihre Instrumente, als ob sie am Unglück der Welt schuld seien.
Gnadenloses Getöse wechselt nach einer langen Pause in einen abschließenden Säufzergesang: „Ich werde müde … lass uns gehen …“
Alle sitzen ruhig und gespannt auf ihren Sesseln und wissen nicht weiter. Erst als die ersten Musiker ihre Instrumente ablegen und sich der Chor entspannt, kommt man zu sich. Die Beifall ist herzlich, aber auch erschöpft.
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Ensemble Modern, SWR Vokalensemble (Foto: H.boscaiolo) |
Extrem spannungsgeladen – Wanderer auf Abwegen
Wie gesagt, ein langer extrem textlastiger, aber musikalisch spannungsgeladener Abend, der wohl eines wieder offenlegt: Die Künstler, Komponisten und Musiker suchen nach Orientierung in einer Welt, die aus den Fugen zu geraten droht. Ob wir dabei den Weg der „verbrannten Erde“ gehen, wie einstmals die Koreaner, oder uns in Eskapismus, Narzissmus, Geschichtsvergessenheit und abwegigen Spaltungen selbst das eigene Gab schaufeln, bleibt dabei vollkommen offen.
Insofern sollten wir es vielleicht mit den möglichen Städten (Possible Cities) eines Eivind Buene halten und das Stadtleben als „gute Metapher für das Hören neuer Musik“ auffassen, wo „plötzliche Lichtöffnungen“ dem Wanderer neue Erfahrungen und unzählige Möglichkeiten bieten. Erinnert sei an dieser Stelle vielleicht an Schuberts Winterreise oder an seine Die schöne Müllerin. Mehr ist wohl kaum zu sagen.
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