Internationale Maifestspiele 2025 in Wiesbaden
Notte Morricone, Gastauftritt des Centro Coreografico Nazionale/Aterballetto, Choreographie & Inszenierung: Marcos Morau mit Musik von Ennio Morricone, Staatstheater Wiesbaden, 14.05.2025
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Aterballetto (Foto: Christophe Bernard) |
Liebevolle Hommage – kunstvolles Tanzspektakel
Notte Morricone (Eine „Nacht für Morricone“) ist ein kunstvolles Tanzspektakel und gleichzeitig eine liebevolle Hommage vor nächtlicher Kulisse für einen unvergessenen Komponisten: Ennio Morricone (1928-2020), eine Künstlerpersönlichkeit, die nicht allein die Filmwelt des 20. Jahrhunderts revolutionierte, sondern auch die Musik des 20. Jahrhunderts. Er schrieb nicht allein mehr als 500 Filmmusiken, sondern auch Kammermusiken für diverse Instrumente und Formationen, sowie Kantaten, Chormusiken, Messen und sogar ein Requiem.
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Aterballetto (Foto: Christophe Bernard) |
Vom Trompeter zum Filmkomponist
Ennio Morricone (1928-2020), ein Ur-Römer, studierte Trompete und Chormusik an der Academia von Santa Cecilia in Rom, machte schnell Karriere als Theaterkomponist und im italienischen Rundfunk (RAI), kannte und kooperierte mit den italienischen Komponisten Luigi Nono, Luciano Berio und Bruno Maderna und war gern gesehener Gast auf den Internationalen Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik, der wohl weltweit fortgeschrittensten avantgardistischen Veranstaltung.
Erst die Zusammenarbeit mit seinem Freund und Mitschüler Sergio Leone (1929-1989) machte ihn Mitte der 1960er Jahre zu einem der erfolgreichsten Filmkomponisten aller Zeiten. Leones Filme Für eine Handvoll Dollar, Zwei glorreiche Halunken und, last but not least, Spiel mir das Lied vom Tod, gehören bis heute zu den Western-Kultfilmen par excellence, und das auch wegen der einzigartigen Musik und der bis dahin ungewöhnlichen Soundeffekte wie Maultrommeln, Trillerpfeifen, Kojotengeheul, Spieluhren, Metronomtaktierung, Schläge auf Ambosse, Holz oder Bleche, um nur einige zu nennen.
Aleatorik, Atonalität, Serialismus und Bruitismus gehören ebenso in sein musikalisches Gepäck wie der Sound des italienischen Belcanto, der barocken Da-Capo-Arien und der gefühlsseligen bis kitschigen Schlagermusik.
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Aterballetto (Foto: Christophe Bernard) |
Höchst atmosphärische Tanzerzählung
Notte Morricone (2024 in Rom uraufgeführt) ist ein Versuch, das schillernde Leben eines universalen Künstlers in eine Nacht zu fassen. Dazu hat der feinfühlige spanische Choreograph Marcos Morau (*1982), gemeinsam mit dem römischen Aterballetto (1977 unter dem Namen Compagnia di Balletto dell´Associazione Teatri Emilia-Romagna gegründet und zwei Jahre später in Aterballetto umbenannt) eine eineinhalbstündige höchst atmosphärische Tanzerzählung geschaffen, die das Publikum auf eine Reise in Morricones Leben, Werk und Philosophie mitnimmt.
Notte Morricone wird förmlich zu einer ruhelosen Nacht im Leben des Vollblutmusikers und Künstlers. Dazu tanzen und spielen 16 Tänzerinnen und Tänzer vor klar strukturierter Kulisse (sie besteht aus einem Flügel, einer Kombination aus einer Radiostation, einem Tonstudio und diversen Aufnahmegeräten, sowie einer düsteren, in schwarz gehaltenen Wand, die mal als Wandkulisse einer Westernstadt dient, mal als Videoleinwand, mal als Aktteiler der insgesamt wohl 13 Teile der Lebensgeschichte).
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Aterballetto (Foto: Christophe Bernard) |
Licht ins Dunkel bringen
Die „Ouvertüre“ lässt drei Tänzer erkennen. Sie tragen Lampen mit sich, die einzelne Teile der verdunkelten Bühnen beleuchten (Licht und Bühne: Marc Salicrú). Auch das Publikum muss sich einer „Beleuchtung“ unterziehen. Die Symbolik ist klar: Man will das Leben eines erst kürzlich Verstorbenen beleuchten, Klarheit und Gewissheit schaffen.
Die Kleidung der Tänzer ist schlicht in weiß grau gehalten. Die Haare gegelt und mit Nasenbrillen bewaffnet, könnten sie die Kunstszene der 1980er Jahre widerspiegeln (Kostüme: Silvia Delagneau). Aber auch auf heute bezogen ist dieses Outfit passend für die intellektualisierte Klientel der Kunstwelt. Die Musik kommt von einer Radiostation, die auf Rollen hereingeschoben wird.
John Cage lässt grüßen, dessen Radio Music von 1956 und Music Walk von 1958 die Aleatorik der Radioempfänger durch ständigen Wechsel zwischen Gesang, Musik, Gespräch und knisterndem sphärischem Geräusch demonstrierte. Mal hört man Beethovens Splitter aus der Eroica, mal einen Marsch aus einer von Schostakowitschs Sinfonien, mal heftiges Geplauder. Der Zufalls will es so. Man trinkt Kaffee und lässt die Zeit verstreichen.
Tanz und Musik – absolut gegensätzlich
Dann wechselt die Szene – das tut sie übrigens insgesamt 13 Mal – und die Kompanie erscheint auf der Bühne. Zur Musik von Morricones The Ecstasy of Gold tanzen die sechzehn Akteure in Gruppen und Paaren mit staccatoartigen Bewegungen: extrem kontrastierend zum weichen, fast lyrischen Sound des Songs. Das übrigens zieht sich über die gesamte Handlung hin. Tanz und Musik sind absolut gegensätzlich strukturiert.
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Aterballetto (Foto: Christophe Bernard) |
Schachspiel entspricht dem Leben
Ein Text aus Morricones Mund über die Philosophie des Schachspiels wird gleichzeitig aus dem Off gesprochen (Texte: Carmina S. Belda). Nach Morricone entspricht das differenzierte Schachspiel dem Leben schlechthin. (Leider werden seine italienischen Aussagen dazu gegendert, was dem Inhalt höchst abträglich ist und mit Sicherheit Morricone missfallen wäre).
Morricone liebt das Ungewisse, das Unbekannte, die gedankliche Vielfalt und das Unvorhergesehene des Schachspiels und überträgt es auf seine Art zu komponieren und seine Musik der Handlung eines Films anzupassen.
Musik kann Unsagbares sagen
Die nächste Szene spielt auf Morricones Ausbildung als Trompeter und Chormusiker an. Die Musik wechselt in Once upon a time in the West und er erscheint erstmals als Puppe, die aus dem Trompetenkoffer entnommen wird. Dazu stellt sich der Künstler die Frage, welche Bedeutung Musik überhaupt hat.
Sein Fazit: Die Musik kann das Unsagbare sagen, sie kann Waffe, aber auch Täuschung sein. Seine Schlussfrage: „Wann ist es Zeit zu weinen?“ scheint eine gewisse Depression auszudrücken, wird aber gleich durch einen Edel-Schlager der 1960er Parlami di te ("Sag mir, was du denkst") relativiert. Damals ein Hit von Françoise Hardy und Alexandra, gibt Morricone die Frage einfach an das Publikum weiter.
Die Bühne wechselt abermals. Ein wunderschönes Nocturne folgt, auf das die Gruppe mit wildem Tanz antwortet. Es spitzt sich in eine verstörende Geräuschkulisse mit heftigen Schlägen zu. Zunächst langsam dann immer schneller werdend. Viel Papier ist im Spiel, die Puppe und seine beiden männlichen Darsteller scheinen in Verzweiflung zu geraten. Das Komponieren will nicht gelingen. Der Fragen sind zu viele, die Antworten fehlen noch. Ein neuer Text bestimmt die folgende Szene.
Wild und Liebevoll
Morricone erläutert die Probleme eines Filmkomponisten. Dazu wird atonale Musik in heftigen Clustern eingeblendet. Elektronische Geräusche, die aber sukzessive in Orchestermusik mit Cembalobegleitung und rhythmische Sequenzen mündet. Dazu ein Tanz von ungeheurer Dichte und extremen Bewegungsmustern. Die Szene schließt mit einem Pas de Deux ab, intensiv, wild, aber auch liebevoll und intim.
Verbunden mit einem Breakdance und italienischer Schlagermusik spricht Morricone in der Puppengestalt von Verbesserung seiner Musik im Sinne von Spiritualität, Verständnis und Ästhetik. Er dankt allen seinen Mitstreitern und geriert sich jetzt als Dirigent (der er übrigens auch war). Eine Szene mit Schreibmaschine und fahrbarem Dirigentenpult vor der Kulisse von Sängern und Musikern.
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Aterballetto (Foto: Christophe Bernard) |
Die Wiedergeburt des Western
Morricone ist auf dem Höhepunkt seines Erfolgs angelangt. Er bekommt Preise en-masse, darunter den späten Oscar für seine Musik für „Haiteful Eight“ im Jahre 2016.
Das Pult allerdings wird lebendig und macht das Dirigieren bei der Musik von Für ein paar Dollar mehr unmöglich. Die Musiker verlassen ihre Plätze und tanzen verwirrt durcheinander. Jetzt wird der Western pur herausgeholt.
In Begleitung von wunderbarer Chormusik rekurriert Morricone noch einmal auf die eingangs erwähnte Bedeutung des Schachspiels für seine Musik aber auch für sein Leben. Er verweist auf John Cage, Maurice Ravel und Sergej Prokofieff, die ebenfalls das Schachspiel als Lebensmaxime betrachtet haben sollen. Auch nennt er den Filmregisseur Terrence Malick (*1943) und das umstrittene Schachgenie Bobby Fischer (1943-2008), die seine Lebensmaxime beeinflusst hätten.
Seine Quintessenz aus alldem: „Ich will unberechenbar bleiben. Schach fördert die Entschlossenheit und Geschwindigkeit. Man muss Schachspielen können, um ein guter Komponist zu werden.“
The-Good-the-Bad-and-the-Ugli-Mentalität
Jetzt wandeln sich die Tänzer vom künstlerischen Intellektuellen zum Arbeiter im „Blaumann“. Weit gefehlt dabei der Gedanke, er habe sich in seinem späteren Leben den Arbeitern zu gewandt. Nein, es ist der Western, die The-Good-the-Bad-and-the-Ugli-Mentalität, die ihn einholt. Die Musik kehrt zur Ecstasy of Gold zurück. Spiel mir das Lied vom Tod und Für ein paar Dollar mehr lassen Pferdegetrappel, das Wiehern, das Schießen aus allen Revolvern und die Atmosphäre einer runtergekommenen Westernstadt erfahren.
Ein Fahrrad und mehrere Schubkarren symbolisieren die Pferde. Morricone erscheint in siebenfacher Puppenausführung und das Klavier wird schlussendlich zum symbolischen Grab des Meisters. Man sieht ein kurzes Video mit allerlei Gestalten aus der Filmszene, darunter Clint Eastwood, Charles Bronson, Henry Fonda und Claudia Cardinale, aber auch die Familie des Meisters mit Ehefrau und Kindern.
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Aterballetto (Foto: Christophe Bernard) |
„Wissen, wie ein Mensch klingt ...“
Ennio Morricone spricht abermals in Aphorismen und Enigmata, die sein Leben bestimmten, wie: „Musik, so sind wir, weil wir so waren“, oder: „Hat der Klang ein Gewissen?“ „Ich wollte alles zu Klang bringen, für mich und für die Menschen und komponieren, was den Menschen unter die Haut geht. Ich wollte wissen, wie ein Mensch klingt, wenn man ihn ansieht.“
Zum Finale werfen die Akteure die Notenständer auf einen Haufen (Adé Musik), die Bühne verdunkelt sich, die Lampenträger erscheinen wieder und die sieben Frauen der Kompanie singen unisono und a capella den französischen Chanson L´oiseau e l´enfant legendado (gesungen und gewonnen von Marie Myriam auf dem Eurovision Song Contest 1977 in London), während die Puppe und die Trompete im Klangraum des Flügels förmlich begraben werden.
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Aterballetto: Schlussapplaus (Foto: H.boscaiolo) |
Bildgewaltig – kurzweilig – detailfreudig
Es waren sehr kurzweilige, bildgewaltige, detailfreudige und musikalisch hervorragende (Sounddesigner: Alex Röser Vatiché und Ben Meerwein) 90-Minuten im vollen großen Saal des Staatstheaters Wiesbaden. Eine Inszenierung und Choreographie von Marcos Morau, die zu recht 2024 dafür den Premio Danza & Danza als beste Großproduktion erhielt.
Die Kompanie Aterballetto liebt und präferiert offenbar das Experimentelle und Interdisziplinäre, wozu neben dem Tanz noch Video, bildende Kunst, Gesang, Sprache und Theater gehören.
Am gestrigen Abend, ein Gastspiel im Rahmen der Maifestspiele 2025, waren sie zu Vierzehnt auf der Bühne, spielten und tanzten, sprachen und sangen mit vorzüglicher Technik und starker Expressivität. Die wunderbaren, sehr nachdenklich machenden Aussagen des Allroundgenies Ennio Morricone wurden eindrücklich auf italienisch rezitiert, allerdings in einem Genderdeutsch übersetzt, was so gar nicht geht, weil Text verfälschend. Das allerdings war der einzige, aber bemerkenswerte Fauxpas. Das Publikum war hellauf begeistert. Die Kompanie musste vielfach zurück auf die Bühne.
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