Samstag, 7. Juni 2025

Melusine, Oper in vier Akten von Aribert Reimann nach einem Libretto von Claus. H. Henneberg, Bockenheimer Depot, Premiere und Frankfurter Erstaufführung, 06.06.2025

Anna Nekhames (Melusine)
Fotos: Barbara Aumüller

Zurück zur Natur

Melusine, vergleichbar mit Undine oder auch Rusalka, ist mythologisch eine Wassernymphe, die Männer mordend nach Liebe sucht, sie aber nicht finden kann. Ihr Ende ist in der Regel das Verschwinden im Wasser auf nimmer Wiedersehen. 

Die Melusine des 20. Jahrhunderts hingegen bekommt nach der Vorlage des französischen Literaten Yvan Goll die Konnotation einer Natur schützenden Kämpferin, ganz den 1920er Jahre entsprechend, wo erstmals der Verlust der Natürlichkeit durch die Entfremdung der kapitalistischen Maschinenwelt verspürt wird und Melusine als Gegenkraft eine neue Rolle bekommt.


Cecilia Hall (Madame Lapérouse), Jaeil Kim (Oleander) 

Das Ende des Ökosystems ...

Yvan Golls (1891-1950) Psycho-Drama wurde erst 1956 in Wiesbaden uraufgeführt, dann von Claus H. Henneberg (1936-1998) durch Zufall entdeckt, der sein theatrales Potential sofort erkannte und es Aribert Reimann (1936-2024) vorschlug. Der wiederum verarbeitete es aber erst im Jahre 1968 zu einer Oper, weil er zwischenzeitlich Strindbergs Traumspiel auf die Bühne brachte. Melusine wurde dann endgültig im Jahre 1971 auf den Schwetzinger Festspielen mit großem Erfolg uraufgeführt.

Warum ist diese doch recht kurze Oper von gut 90 Minuten Dauer noch heute so aktuell? Lesen wir dazu die Aussage der Regie Debütantin Aileen Schneider: Die Oper rühre ihrer Auffassung nach an Fragen, die uns gegenwärtig so sehr beschäftigen: „Welche Verantwortung tragen wir als Individuen dafür, dass unser Ökosystem nicht zugrunde geht? Wer von uns ist wirklich bereit, zum Wohle der Menschheit auf sein persönliches Glück zu verzichten?“

Die Gegenfrage allerdings lautet: Gibt das Sujet der Oper tatsächlich Antworten auf diese Fragen, oder weist ihr Stoff möglicherweise eine gänzlich andere Richtung?


Melusine liebt den Garten und sonst niemand

Denn Melusine ist die Gestalt einer Zwischenwelt. Sie ist gezeugt von Oger, einem menschenähnlichen Ungeheuer, mit Madame Lapérouse. Pythia, ursprünglich die Wahrsagerin des Orakels von Delphi, ist die Weggenossin Ogers und Hüterin eines paradiesischen Parks. 

Melusine steht zwischen der Welt der Geister, die den Park beherrschen, und der realen Welt ihrer Mutter und ihres Gatten Oleander. Der wiederum, ein Egomane und gnadenloser Immobilienmakler, klagt über seine minderjährige Frau, die ihm weder sexuell noch sonst wie hörig scheint. Kein heißes Wasser zum Rasieren, kein Kaffee und keine Berührung. Die Mutter, die wohl Oleander auch nicht gerade verschmäht, wirkt erzieherisch auf ihre Tochter ein, doch ohne Erfolg. 

Melusine liebt ihren Garten Eden und sonst nichts und niemand.

v. l.: Jaeil Kim (Oleander), Dietrich Volle (Geometer),
Anna Nekhames
(Melusine)

Der Fischschwanz – ein erotisches Symbol

Dann wechselt die Szene. Ein Geometer (Dietrich Volle, Bariton) betritt den Garten und vermisst das Gelände. Seit hundert Jahren hat kein Mensch mehr diesen Ort betreten. Was will er? Sie erfährt, dass der Garten verkauft ist und ein Schloss darauf gebaut werden soll. Panik überfällt sie. Sie schafft es, den Eindringling zu verzaubern, der darauf Selbstmord begeht.

Dennoch ruft sie Pythia (Zanda Svède, Mezzosopran) zu Hilfe, die sie mit einem Fischschwanz bewaffnet. Ein erotisches Attribut, das alle Eindringlinge verführt und von der Eroberung des Parks abhalten soll. Von Liebe allerdings kann keine Rede sein, denn die würde den Plan vereiteln und das Ende der Geisterwelt bedeuten. Das gelingt ihr auch weitgehend.

Dennoch entsteht das Schloss und sie lernt dabei den Besitzer kennen, den Grafen von Lusignan (Liviu Holender, Bariton). Es ist Liebe auf den ersten Blick.


Anna Nekhames (Melusine), Zanda Švēde (Pythia)

Ich bin ein Mensch geworden“

Der Graf ersetzt ihr Paradies. Ihn hat sie unbewusst immer ersehnt. Ein Liebesakt, vergleichbar mit Wagners Tristan und Isolde von nahezu 25 Minuten, führt Melusine in die Welt der Menschen: „Ich bin ein Mensch geworden.“

Sie verlässt die Geisterwelt der Pythia und ihres Vaters Oger (Morgan-Andrew King, Bass), muss aber die Konsequenzen tragen. Pythias und Ogers Rache ist unerbittlich. Sie lassen das Schloss in Flammen aufgehen. Melusine und der Graf sterben. Zurück bleiben Oleander, der Ehemann, und die Mutter, Madame Lapérouse. Die Geisterwelt existiert nicht mehr, auch die Liebenden sterben den Liebestod in den Flammen ihres „Paradieses“.


Anna Nekhames (Melusine; Bildmitte), Ensemble

Raumsonde – giftgrünes Paradies

Was aber macht die Regie und das Team um Karsten Januschke (musikalische Leitung), Christoph Fischer (Bühnenbild), Lorena Diaz Stephens (Kostüme), Olaf Winter, Jonathan Pickers (Licht) und Maximilian Enderle (Dramaturgie) aus dieser spannenden Erzählung?

Sie verlegen den Ort in eine menschenfeindliche Maschinenwelt: ein wenig Raumsonde, ein wenig Sternwarte. Mittig der Bühne steht ein Baumgerippe, giftgrün. Es repräsentiert das Naturreservat mit Vogelgezwitscher, wilden Tieren und sprudelnden Wassern. 

Melusine tritt im rauschenden Hochzeitsgewand auf, übrigens glänzend repräsentiert von der Koloratursopranistin Anna Nekhames. Ihre Mutter (Cecilia Hall, Mezzosopran) und ihr Ehemann (Jaeil Kim, Tenor) sind in abweisende metallicfarbene futuristische Gewänder gesteckt. 

Ebenso kommen die Arbeiter und Protagonisten der Menschenwelt (u.a.: Maurer, Frederic Jost, Bass, Architekt, Andrew Kim, Tenor) eher aus dem Weltall, als von handfester Arbeit. Sie tragen Masken und überdimensionierte Brillen und stecken in aseptischen gelben und weißen Anzügen. Sind namenlose Gesellen.


v. l.: Anna Nekhames (Melusine), Jaeil Kim (Oleander),
Morgan-Andrew King
(Oger)

Ritt durch die Gefühlswelten

Die ersten beiden Akte zeigen eine Welt, in der Natur wie Maschine einen menschenfeindlichen Charakter besitzen. Das Publikum sitzt wie in einer Arena um das Geschehen herum.

Beide Akte leben allerdings von der unglaublichen Widersprüchlichkeit von Mutter, Tochter und Ehemann. Alle drei glänzen durch prächtige Arien, Wortgefechte und rezitativische Einlagen. Oleander in hektischem, teils übergriffigem Impetus, zwischen Verzweiflung und Wutausbrüchen, Madame Lapérouse mit betont herrschaftlicher Ruhe und Ausstrahlung, die allerdings keine Widerrede duldet, und Melusine in teils abgewandter, teils kindlich naiver, aber auch bestimmter Ablehnung gegenüber ihrer Mutter und ihrem Ehemann („Ich habe Angst vor ihm, ich hasse ihn!“).

Ein Ritt durch die Gefühlswelt dreier Menschenkinder, die extrem unterschiedlicher kaum sein kann, bestens durch die Musik unterfüttert.


Anna Nekhames (Melusine), Liviu Holender (Graf von Lusignan)

Hexe und abscheuliches Wesen

Dann die Rolle der Pythia, von Zanda Svède in sehr ausdrucksstarkem Mezzo gesungen und gespielt. Sie erscheint als Hexe mit gezackten Hörnern über der Schulter, langem, aschblonden Haar und riesigen knorrigen Händen. Dazu in ein metallenes giftfarbenes Gewand gekleidet. 

Ihr Begleiter und Kampfgenosse, Oger (Morgan-Andrew King, Bass), tritt zwar erst im dritten Akt auf, ist ein abscheuliches Wesen, eher aus der Unterwelt als aus der Geisterwelt entrückt. Seine Rolle ist die des Verhinderers der Liebschaft zwischen seiner Tochter und dem Grafen. Beweglich und schrecklich zugleich verrichtet er sein Werk, aber, wie wir wissen, ohne Erfolg.


Liebesszene von größter Zärtlichkeit

Die Bühne des zweiten Teils ersetzt den Paradiesgarten durch einen stilisierten Altar. Eine Freitreppe mit einem Sockel, geschützt durch ein Gitter, wie ein Tabernakel. Die Liebesszene zwischen dem Grafen von Lusignan und Melusine kreist um das Gebilde, mal Treppauf, mal Treppab, bei lyrischem Gesang und Harfen- wie Bratschenbegleitung.

Der Graf, einem griechischen Apollo ähnlich, spricht von seiner letzten Liebe, während Melusine ihre erste Liebe feiert, jetzt in hautengem erdfarbenem Anzug, ohne Fischschwanz und ohne Stiefel. Beide gehen mit größter Zärtlichkeit miteinander um, was durch die Musik noch verstärkt wird. Sie begleitet die beiden mit sinnlichen Akkorden und changierenden, fast melancholischen Klangmustern.


Liviu Holender (Graf von Lusignan), Anna Nekhames (Melusine)

Katastrophe - eine modische Attitüde

Der vierte Akt lässt das „Schloss“ brennen. Dazu kommen aus dem kreisrunden Rohr über der Bühne dicke Rauchschwaden, während es sich zum Bühnenboden absenkt. Beide Protagonisten sterben auf dem Altar. Oger versucht noch seine Tochter zu retten, was ihm misslingt.

Er trägt die Tote an den Rand des Rohres, wo Mutter und Ehemann den Tod Melusines gewahr werden. Keine Trauer überwältigt sie, sondern lediglich die Feststellung, dass das Feuerwerk immerhin ein wenig Abwechslung in ihre Langeweile gebracht habe.

Zitieren wir an dieser Stelle vielleicht den Librettisten Carl H. Henneberg, der sich voller Skepsis über den Menschen auslässt, der den Tod und drohende Katastrophen eher als „modische Attitüde“ begreift. Seine Karriereabsichten, fährt er fort, mache ihn „zutiefst uneinsichtig“.

Aileen Schneiders beabsichtigte Kapitalismuskritik und prophetische Vorausschau des nahenden Weltuntergangs (sie bezieht sich dabei im Programm wie in öffentlichen Äußerungen gerne auf die letzte Generation und die Fridays for Future Bewegung mit ihren Protagonistinnen Luisa Neubauer und Greta Thunberg) wird allerdings dem Stoff der Melusine nur halbwegs gerecht. Ist doch die Liebe der beiden Hauptfiguren das zentrale Moment des Stoffes.


Morgan-Andrew King (Oger; vorne), Liviu Holender (Graf von Lusignan),
Anna Nekhames (Melusine)

Melusine – eine wissende Frau

Melusine ist das Werkzeug der Menschen- wie der Geisterwelt. Nur ihre konsequente Lösung von beiden Welten kann sie aus dem Dilemma retten. So ist es kaum verwunderlich, dass die Liebe zum Grafen ihr verlassenes Paradies ersetzt und sie dabei die Obdachlosigkeit der Nymphen- und Geisterwelt wie auch die Trennung von ihrem übergriffigen Mann und ihrer dominanten Mutter in Kauf nimmt.

Ja, die Liebe zum Grafen bedeutet das „Ende ihrer Erziehung“ durch Pythia wie durch ihre Mutter. Der Graf ist ihr Zaubergarten, ihre Zukunft. Ihre Liebesklärung macht sie zur wissenden Frau („Ich war ein Wesen ohne Wissen“). „Ich gehöre dir“, ruft sie, und ergänzt: „Ich bin frei!“ Während der Graf singt: „Oh Traum einer Liebe!“ und sie über die Lippen bringt: „Ich liebe dich!“, fällt die alte Welt in Trümmer.


Das Glück und die Liebe – ein Menschenrecht

Oger ruft voller Rachelust: „Du hast unser Geschlecht verraten. Du bist nicht mehr rein!“, womit der Zauber aufgelöst und das neue Leben der Melusine beginnen könnte. Sie aber ist kein Wesen dieser Welt und muss leider die Konsequenzen tragen. Es ist der klassische Liebestod, den beide sterben. Eine paradiesische Liebe, die keine Entsprechung im irdischen Leben haben kann. Muss dabei die Welt untergehen? Müssen wir als Menschen der Liebe und des Glücks entbehren, um den Globus zu retten?

Nein! Bestimmt nicht! Liebe ist das höchste Streben nach Menschlichkeit. Sie allein ebnet den Weg zu Gott, zur Unendlichkeit. Das aber ist ausschließlich ein Akt der Sehnsucht, insofern kann diese Geschichte der Melusine auch durchaus den Vergleich mit Wagners Tristan und Isolde im zweiten Akt vertragen. Eine Liebe, die nur durch den Tod zur Erfüllung gelangen kann.


Schlussapplaus
rechts von Anna Nekhames (Melusine): Cecilia Hall,
Jaeil Kim, Andrew Kim
(Architekt), Dietrich Volle (Geometer), zwei Herren
Foto: H.boscaiolo

Ein gewaltiges Feuerwerk

Dazu allerdings braucht man keine Kapitalismuskritik und kein Weltuntergangsszenario, denke ich. Verzicht und Entbehrung sind keine Maßstäbe für eine bessere Welt. Dennoch: diese Erstaufführung war, trotz politischer Überfrachtung, in allen Bereichen ein Genuss. Gesanglich und musikalisch. Die Hauptrolle der Melusine durch Anna Nekhames besetzt, kann kaum besser sein. Ihr Gesang ist einfach betörend. 

Aber auch die übrigen Sänger und Sängerinnen waren blendend in Form und gaben mit der gewaltig differenzierten und abwechslungsreichen Musik unter der souveränen Leitung von Karsten Januschke und seinem hoch engagierten kleinen, aber feinen Frankfurter Opern- und Museumsorchester (33 Instrumentalisten) ein in positivem Sinne gewaltiges Feuerwerk ab, das das Publikum in der Arena restlos mitnahm und begeisterte.


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