38. Rheingau Musik Festival 2025
Grigory Sokolov, Klavierrezital, Kurhaus Wiesbaden, 06.07.2025
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Grigory Sokolov (Foto: Ansgar Klostermann) |
Ein Phänomen
Der Pianist Grigory Sokolov (*1950) ist in jeder Hinsicht ein Phänomen. Im russischen Leningrad (heute Sankt Petersburg) geboren, in Verona lebend mit spanischer Staatsbürgerschaft, ist seine konzertante Programmauswahl im Wechsel von Renaissance bis zur Moderne ebenso vielschichtig, sind seine Bühnenauftritte einzigartig, wie überhaupt seine musikalische Karriere voller Brüche und Besonderheiten ist.
So spielt er seit vielen Jahrzehnten ausschließlich solistisch (die großen Klavierkonzerte mit renommierten Orchestern meidet er), ist seine Programmgestaltung zuweilen speziell (oft gibt er sie erst am Konzertabend bekannt), meidet er weitgehend Interviews und öffentliche Showveranstaltungen, dabei ist seine Bühnenpräsenz schnörkellos und ohne jegliche Allüren.
Bar jeglichen Schnickschnacks
Pianistisch meidet er jeglichen virtuosen Schnickschnack. Zudem spielt er seine Programmhälften en bloc, kommt und geht in der Regel ohne Verbeugung. Erst am Schluss nimmt er diese Geste wahr. Legendär sind seine sechs Zugaben aus allen Musikepochen. Meist kurz und knackig, immer aber selten gespielte Kleinodien.
Auch dieses Mal stand sein Programm lediglich im Groben fest (man wusste, er spielte Werke von William Byrd und Johannes Brahms), aber die Details wurden erst kurz vor Konzertbeginn bekannt gegeben. Es waren sechs Stücke von William Byrd (1540-1623) sowie vier Balladen op.10 und zwei Rhapsodien op. 79 von Johannes Brahms (1833-1897).
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Grigory Sokolov (Foto: Klaus Rudolph) |
"Father of Music"
Auch wenn William Byrd auf dem europäischen Festland lediglich Musikkennern bekannt sein dürfte, zählt er doch auf der britischen Insel als „Father of Music“ (Vater der Musik), wo doch aus Sicht der Festlandeuropäer eher Johann Sebastian Bach diese Auszeichnung gebühren sollte.
Nein. William Byrd hat die Musikgeschichte nicht nur seiner Zeit geprägt, sondern auch viele seiner Nachfolger maßgeblich beeinflusst. Darunter so bekannte Organisten, Cembalisten und Komponisten wie John Bull, Thomas Tomkins oder auch Orlando Gibbons. Bekanntlich befinden wir uns in der Umbruchszeit der Renaissance, die in England politisch von Elisabeth I. (1533-1603) und literarisch von William Shakespeare (1564-1616) geprägt ist.
Byrd, der zeitlebens seinem katholischen Glauben treu bleibt (der Anglikanismus seit Heinrich VIII. (1491-1547) verbot strengstens den Katholizismus), bekommt dennoch eine privilegierte Stellung am Hofe der Königin in London, was wohl seiner außerordentlich expressiven und beliebten Musik zu verdanken ist.
Tänzerisch, erzählend, melancholisch
Von seinen knapp 500 Werken sind ca. 125 dem Virginal gewidmet (einem Vorläufer des Cembalo), aus denen der umtriebige Grigory Sokolov ganze sechs ausgewählt hat. Darunter zwei Variationen, über die Volkslieder „John come kiss me now“ BK 81 (BK steht für Keyboard Book), und „Callino casturame“ BK 35. Dazu zwei Pavanen- und Galliarden Tänze BK 29 a/b sowie BK 15 a-c. Dazu eine Fantasia in G-Dur BK 63 und ein Alman (Deutscher Tanz) BK 11.
Alle Werke sind laut Schott-Verlag dem „Fitzwilliam Virginal Book“ und „My Ladye Nevells Book“ entnommen, einer der wichtigsten britischen Viriginalsammlung. Genug der Details.
Die Renaissance Stücke sind mal tänzerisch, mal erzählend, mal melancholisch. Die sechzehn Variationen aus „Kiss me now“ glänzen vor allem durch figurative Triller, diverse Verzierungstechniken und ständige Dur-Moll-Wechsel.
In die Renaissance versetzt
Sokolov spielt sie unprätentiös und irgendwie ganz im Stil der Renaissance, das heißt ohne Pathos, ohne ausladende Emotion und vor allem mit klarer Vernunft. Man spürt förmlich den philosophischen Einfluss eines Francis Bacon (1561-1626), den Wegbereiter des Empirismus. Auch die Galliarden, Pavane und vor allem die Fantasia mit den herrlichen kanonischen Folgen, gehörten dazu.
Man wurde den Eindruck nicht los, Sokolov habe sich in die Zeit der englischen Renaissance versetzt. Die Stücke waren insgesamt zwar ähnlich in Stil und Anlage, schrieb Byrd sie doch ausschließlich für das Virginal, ein einsaitiges Tischinstrument mit maximal fünf Oktaven (meist weniger), das zudem wenig Phrasierungsmöglichkeiten und Farbnuancen zuließ.
Auf dem Konzertflügel allerdings zauberte der Meister der Tasten daraus wunderbare Piècen und ließ auch durch die Auswahl der Stücke tiefe Einblicke in das doch revolutionäre 16. Jahrhundert zu.
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Grigory Sokolov (Foto: Ansgar Klostermann) |
Poesie in absoluter Musik
Der zweite Teil des Abends wurde durch Johannes Brahms Früh- wie Spätwerk gestaltet. Die vier Balladen schrieb er als 21-jähriger aufstrebender Komponist, wobei er sich von der schottischen Düsterkeit aus der Herder Sammlung Stimmen der Völker inspirieren ließ. (Immerhin ein Bezug auf die Insel).
Die Balladen erzählen zwar Geschichten, sind aber nicht als Programmmusik gedacht, die Brahms als Anhänger der absoluten Musik zeitlebens ablehnte. Bekanntlich ließ er sie von seinem Freund Joseph Joachim begutachten, der sie sehr schätzte, vor allem die dritte Ballade in h-Moll, genannt Intermezzo. Allerdings hat Brahms viele Melodien und Anlagen des Opus 10 in seinen späteren Liedern wieder verwendet.
Angeblich hat er sie Robert Schumann in der Psychiatrie Endenich im Januar 1855 persönlich vorgespielt, woraufhin der kranke Schumann seiner Frau Clara einen „enthusiastischen Brief“ schrieb, in dem er die „zauberhafte, Phantasie anregende“ Gestaltung der Balladen hervorhob. Vor allem die „Dämonie“ der dritten Ballade, des Intermezzos, hatte es ihm besonders angetan.
Tatsächlich sind die vier Erzählungen poetisch inspiriert, ohne allerdings von der absoluten Musik abzuweichen. Technisch allerdings sind sie von ausgesprochener Moderne, trotz Festhaltens an traditionellen Formen. Nicht von Ungefähr hat Arnold Schönberg Johannes Brahms Kompositionen zum Vorbild seines eigenen Schaffens genommen.
Zwischen Tradition und Moderne
Grigory Sokolov wiederum spielte en bloc beide Werke, auch wenn die Rhapsodien erst 1879 (uraufgeführt 1880) entstanden sind. Hier wiederum dominiert eher die Sommerfreude am Pörtschacher See, wo Brahms seine Urlaub verbrachte und beide Rhapsodien komponierte. Eigentlich sind es Rondos oder auch Sonaten, aber irgendwie auch wieder nicht. Er selbst hatte seine Probleme mit der Namensgebung, nannte sie einmal Capricci, ein anders Mal Balladen.
Die Bezeichnung Rhapsodien ist eher nebensächlich und ausweichend, fehlt ihnen doch weitgehend das rhapsodische-improvisatorische Element. Andererseits hat Brahms viele Neuigkeiten eingebaut, so das weitgehende Fehlen der Tonika, die immer wiederkehrenden Trugschlüsse sowie sein freier Umgang mit den Dissonanzen.
Titan an den Tasten
Sokolov wiederum glänzte durch sein subtiles Verständnis dieser doch sehr konzentrierten Stücke. Ohne Pause spielte er Früh- wie Spätwerk (Brahms ist 47 Jahre alt, als seine Rhapsodien vermutlich von ihm selbst in Krefeld uraufgeführt werden), ohne Makel und von einer Anschlagkultur, die Seinesgleichen sucht. Trotz seiner 75 Jahre ist er, zwar körperlich sichtbar gealtert, an den Tasten immer noch ein Titan.
Wie schrieb doch Tobias Stosiek zu Sokolovs 75. Geburtstag am 18. April diesen Jahres für den BR, in der Erkenntnis, dass der eigene musikjournalistische Vokabelkasten bei Sokolov schrecklich mager erscheint: „So unendlich sensibel ist Sokolovs Anschlag, so eigenwillig, witzig seine Akzente, so völlig durchsichtig seine Stimmführung, so gestochen scharf seine Phrasierung.“ Ja, so ist es.
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Grigory Sokolov (Foto: H.boscaiolo) |
Seelenverwandler
Der leider nur mäßig besetzte wunderschöne Friedrich-von-Thiersch-Saal des Kurhauses Wiesbaden wollte allerdings Sokolov nicht so einfach von der Bühne gehen lassen.
Mittlerweile gehören sechs Zugaben zu seinem Standardrepertoire. Er spielte kleine Piècen von Rameau (Les Souvages), Mazurkas von Chopin (op.30/1, op.50/3, op.68/2) das 20. Prélude aus dessen 32, op.28, sowie abschließend eine Bach-Transkription von Alexander I. Siloti zum Präludium in h-Moll BWV 855 , aus dem 1. Band des Wohltemperierten Klaviers von Johann Sebastian Bach.
Eine letzte Weisheit aus dem Munde Grigory Sokolovs, die er im Jahre 2016 in einem Interview mit Christine Lemke-Matwey zum Besten gab und durchaus in die heutige Zeit passt: „Die Kunst ist ein Paralleluniversum zur Wirklichkeit.“ Irgendwie hat er es wieder einmal geschafft, das Publikum in seinen Bann zu ziehen und ihre Seelen zu verwandeln. Was will Kunst, seine Klavierkunst, eigentlich mehr?
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