38. Rheingau Musik Festival 2025
„Argentinische Nacht“ mit Martynas Levickis (Akkordeon) und dem Stuttgarter Kammerorchester (Leitung: Susanne von Gutzeit), Kloster Eberbach, 31.07.2025
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Martynas Levickis und das Stuttgarter Kammerorchester Foto: Ansgar Klostermann |
Im Geiste von Nadja Boulanger
Genau so, wie der angeblich heißeste Sommer aller Zeiten förmlich ins Wasser zu fallen scheint, so ist die angekündigte „Argentinische Nacht“ nur am Rande eine, denn mit einer Komposition des fast vergessenen polnischen Komponisten, Wojciech Kilar (1932-2013), müsste man den verregneten Abend (man musste in die Basilika ausweichen) eigentlich umbenennen in „Polnisch- Argentinisches Event“, oder noch besser in „Ein Abend im Geiste der großen Nadja Boulanger“ (1887-1979). Sei´s drum. Keine Wortklauberei.
Mit weiteren vier Werken und einer Zugabe aus der Hand Astor Piazzollas (1921-1992) wurde das Konzert mit dem Ausnahme-Akkordeonisten Martynas Levickis (*1990) und dem Stuttgarter Kammerorchester unter der souveränen Leitung der ersten Geigerin, Susanne von Gutzeit, ein wirkliches Spektakel bei Blitz und Donner im schönen Rheingau im einem prall gefüllten dreischiffigen Saal der romanischen Basilika.
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Stuttgarter Kammerorchester (Foto: Wolfgang Schmidt) |
Komponisten mit Authentizität
Warum im Geiste Nadja Boulangers? Beide Komponisten lernten bei ihr, ihr eigenes Genre, ihren eigenen Stil, ihre Authentizität zu finden und wurden durch ihr pädagogisches Geschick, zu dem, was sie in Wirklichkeit waren: Zu Komponisten der ganz persönlichen Art.
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Martynas Levickis (Foto: Stephan Zwickirsch) |
Minimalistischer Folklore Stil
Wojciech Kilar (1932-2013) machte mehrere Stufen seiner musikalischen Entwicklung durch. Vom Klassiker über den Avantgardisten bis zum Folkloristen. Seit der Zeit nach Nadja Boulanger erkannte er seine folkloristischen Bezüge zu seiner Heimat und wechselte in den neoromantischen und minimalistischen Stil.
Sein am gestrigen Abend aufgeführtes Werk Orawa, der Name eines Flusses, der durch die Hohe Tatra fließt, fällt exemplarisch in dieses Genre. Neben seinen Soundtracks in diversen Filmen, die ihn im Westen bekannt machten, gehört dieses, etwa neun minütige Werk aus dem Jahre 1986, zu seinen bekanntesten und wohl auch zu seinen besten.
Für Streichorchester geschrieben (hier 17 an der Zahl) strotzt dieses Werk vor Energie, ist im minimalistischen Stil stark rhythmisiert, sehr repetitiv und mit folkloristischen Einflüssen aus der Karpaten Region gespickt.
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Martynas Levickis und das Stuttgarter Kammerorchester, ganz links: Susanne von Gutzeit Foto: Ansgar Klostermann |
Spannungsgeladener Einstieg nach Maß
Hier glänzte bereits das Streicherteam aus Stuttgart mit ausgeprägter Dynamik, bester Sequenzierung der motivischen Vorgaben und vor allem durch fast schon überbordende Agogik, die in der halligen Basilika äußerst wirkungsvoll verstärkt wurde. Auch trat hier bereits die erste Geigerin Susanne von Gutzeit mit einigen Kadenz Einlagen in den Fokus. Eine spannungsgeladene Interpretation bis zum Finale, das mit einem lauten „Hey“ Ruf endete. Ein Einstieg nach Maß.
Der beste Tango aller Zeiten: der Tango nuevo
Dann kam er, Martynas Levickis, zu seinem vorletzten Auftritt in dieser Festival Periode als Fokus Künstler. Vier Stücke von Astor Piazzolla (*1921-1992) hatte er in seine Akkordeonkoffer mitgebracht. Darunter so bekannte Werke wie Chador (1978), Oblivion (1982) und Cuatro estaciones porteñas (Die vier Jahreszeiten) aus dem Jahre 1965-1969.
Zuvor soll aber auch bei Astor Piazzolla auf den Einfluss Nadja Boulanger eingegangen werden. Er suchte die Grand Dame der Musik im Jahre 1954 auf, weil er den Tango, ein Tanz aus der argentinischen Nachtclubszene, verlassen, und sich der klassischen westlichen Musik zuwenden wollte.
Nadja Boulanger las, wie überliefert ist, gewissenhaft seine kompositorischen Mitbringsel und meinte lediglich, das klinge wie Musik aus dem Cabaret, aus Nightclubs. Dazu muss ebenfalls festgehalten werden, dass Piazzolla sein Geld als Bandoneon Spieler verdiente, und das mit guten Erfolg. Boulanger ließ sich offenbar einige Stücke auf diesem Instrument vorspielen und meinte spontan: „Sie Idiot. Das ist Piazzolla!“ Piazzolla daraufhin: „Ich nahm meine ganze Musik, die ich in den letzten zehn Jahren geschrieben hatte, und schickte sie zur Hölle.“
Er blieb 18 Monaten bei Boulanger und kehrte als einer der besten Tango Komponisten aller Zeiten, mit seinem Tango nuevo, in seine Heimat Argentinien zurück.
Rhapsodie im Tango Rhythmus
Aconcagua aus dem Jahre 1979 gehört zu seinen weniger bekannten Werken, bezieht sich auf den höchsten Vulkanberg Südamerikas, der ausgerechnet zu Argentinien gehört, und beschreibt in drei Teilen den Auf- und Abstieg wie auch das Hochgefühl auf seinem Gipfel. Großartig das Moderato der Mittelteils, in dem ein Quartett aus Geige, Akkordeon, Cello und Harfe im Charakter eines Chopin-Nocturnes die tiefe Naturverbundenheit und die Demut vor der Gottesschöpfung zum Ausdruck bringt.
Überhaupt könnte man die Komposition eher als Rhapsodie, als frei sich entfaltende melodische Aneinanderreihung von Themen im Tango Rhythmus beschreiben. Der Abstieg im abschließenden Presto ist insofern kein klassischer virtuoser Höhepunkt mit triumphalem Finale, sondern eher ein nachdenklicher Concerto Satz im barocken Stil mit einer melancholischen Note. Wunderbar vorgetragen vom jetzt 21-köpfigen Orchester, ergänzt durch Klavier, Harfe, Perkussion und Pauke.
Die Hymne der Argentinier
Oblivion, eigentlich für Streicher und Bandoneon im Jahre 1982 geschrieben, wird an diesem Abend zu einem Solostück für Levickis umgearbeitet. Oblivion heißt in der Übersetzung Vergessen und besteht aus einer wundervollen Melodie für die Geige konzipiert, begleitet vom Tutti und dem Bandoneon.
Dieser Tango gehört zu den berühmtesten aus seiner Hand, wurde er doch zur königlichen Hochzeit vom holländischen Kronprinzen Willem Alexander mit der Argentinierin Maxima Zorreguieta im Jahre 2002 gespielt und gehört quasi zur Hymne der Argentinier.
Martynas Levickis interpretierte diesen Ohrwurm mit großer Hingabe und begeisterte das Publikum, dessen Beifall kein Ende nehmen wollte.
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Martynas Levickis und das Stuttgarter Kammerorchester Foto: Ansgar Klostermann |
Luftig im Kanzonette Stil
Chador aus dem Jahre 1978 sollte den ersten Teil des Abends beenden. Chador ist eigentlich der Name für ein Album aus der Hand Piazzollas, das auch unter dem Namen „Piazzolla 78“ bekannt ist. Dieses kurze prägnante Stück für Orchester und Bandoneon enthält eine Menge jazziger und funkiger Elemente und wurde auch für die Fußballweltmeisterschaft 1978 in Argentinien entworfen.
Das luftige Stück besteht vorwiegend aus einer Aneinanderreihung von Triolen, die sich in effektvollen rhythmischen und irgendwie auch im italienischen Kanzonette Stil entwickeln. Kurz und knackig vorgetragen, das aber mit ungeheurer Verve.
Die vier Jahreszeiten als individuelle Zustandsbeschreibung
Die Vier Jahreszeiten, oder genauer Cuatro Estaciones Porteñas, aus dem Jahre 1965 bis 1969 umfassten den zweiten Teil des Abends. Man ist geneigt, sie mit den gleichnamigen Vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi zu vergleichen, was mitnichten zutrifft.
Zwar wollte Piazzolla schon die vier Jahreszeiten in seiner Heimatstadt Buenos Aires beschreiben und damit eine Gegenstück zu denjenigen Vivaldis, aber wie man sieht, sind die Einzelstücke während eines Zeitraums von vier Jahren geschrieben und eigentlich auf das Leben der Stadtbürger (porteñas bedeutet übersetzt Hafenbewohner) bezogen. Es beschreibt den Puls dieser Stadt, ihren Seelenzustand. Die Jahreszeiten repräsentieren eher individuelle Zustandsbeschreibungen.
Geschrieben ist es eigentlich für Klaviertrio, hier aber arrangiert von Santiago Cimadevilla für Streichorchester, Klavier und Akkordeon. Die Reihenfolge beginnt hier wohl aus dramaturgischen Gründen mit dem Winter, gefolgt vom Frühling, Sommer und Herbst (eigentlich ist die Reihenfolge: Sommer, Herbst, Winter, Frühling).
In den Tango nuevo eingefühlt
Der Winter, in einem melancholischen Lento geschrieben, lässt die Einsamkeit verspüren, wird aber durch pulsierende Aufwallungen unterbrochen. Der Frühling, eigentlich der Schlussteil des Zyklus´, besteht aus einer Fuge mit synkopischen Rhythmusfolgen. Der Sommer, ein leidenschaftlicher Teil, besteht aus mehreren solistischen Einlagen von Geige, Cello, Klavier und natürlich auch Akkordeon.
Hier zeigte sich vor allem die Qualität des Orchesters, wie auch die exzellente Harmonie zwischen Akkordeon und den einzelnen Solisten und dem ganzen Team. Überhaupt muss man dem Kammerorchester größten Respekt zollen, wie sie sich in die Seele des Tangos versenkten und die Basilika in den argentinischen Tango nuevo tauchten.
Der abschließende Herbst, ein Allegro moderato, lässt die Zeit des Abschieds hörbar werden. Die Leidenschaft wechselt zur Vergänglichkeit, die Noten sinken Schritt für Schritt herab in die Tiefe der Seele. Kein triumphaler Schluss, sondern eher ein nachdenklicher Abschluss in „gelb“ (bezogen auf die Verfärbung der Blätter).
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Martynas Levickis und das Stuttgarter Kammerorchester Foto: Ansgar Klostermann |
Das Publikum hat einen Liebling
Der Beifall ist frenetisch, Martynas Levickis gehört offensichtlich zu den Lieblingen des Publikums. Alle sind förmlich aus dem Häuschen und verlangen ... Zugaben. Wie sollte es anders sein: Das Libertango, ein Kunstbegriff für Freiheit aus dem Jahre 1974 für Bandoneon, Klavier, Gitarre, Streicher und Bläser.
Eine wieder einmal eigenwillige, aber durchaus akzeptable Interpretation vom Stuttgarter Kammerorchester unter der vorzüglichen Leitung und Geigerin Susanne von Gutzeit (sie spielt übrigens auf einer Guadagnini Geige aus dem Jahre 1756) und dem Meister auf seiner „magischen Trickkiste“, Martynas Levickis. Ein polnisch-argentinisches Event, im Geiste von Nadja Boulanger.
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