Samstag, 9. August 2025

38. Rheingau Musik Festival

Roman Borisov, Klavierrezital im Fürst-von-Metternich-Saal auf Schloss Johannisberg, 08.08.2025


Roman Borisov (Foto: Ansgar Klostermann)

Ein Pianist aus dem Olymp

Es ist schon bemerkenswert, wie es das Team des RMF immer wieder schafft, großartige Interpreten ausfindig zu machen und dem Festival Publikum vorzustellen. 

Das trifft auch für das Debütkonzert des noch sehr jungen russischen Pianisten, Roman Borisov (*2002) zu, der kometenhaft in die Phalanx der weltbesten Klaviervirtuosen aufgestiegen ist (er gewann 2019 den Krainev Jugendwettbewerb, was seinen sagenhaften Aufstieg einleitete, und 2022 den 1. Preis beim Kissinger KlavierOlymp, wo er als jüngster Teilnehmer Aufsehen erregte), und auf Schloss Johannisberg mit fünf extrem unterschiedlichen und selten gespielten Werken, von Béla Bartók (1881-1945), Leopold Godowsky (1870-1938), César Franck (1822-1890), Ludwig van Beethoven (1770-1827) sowie Sergej Prokofjew (1891-1953), eine Klangpalette abdeckte, die seinesgleichen sucht. 

Und das mit Bravour, um es vorweg zu nehmen.


Im Garten der Ideen

Ein wenig im Outfit und Gestus eines Jewgeni Kissin in jungen Jahren, ganz in Schwarz, aber jugendlich leger, begann Roman Borisov mit Béla Bartóks fünf Stücken für Klavier, das er Im Freien übertitelte, weil er es tatsächlich in seinem Garten komponierte und 1926, noch in seiner Heimat Ungarn, veröffentlichte.

Bartók hörte in diesen anspruchsvollen Stücken, die er seiner zweiten Ehefrau und Pianistin Dita Pasztori-Bartók widmete, tief in die Natur hinein, wie auch in die ungarische und rumänische Folklore. 

Rhythmisch von höchster Komplexität und harmonisch zwischen Bi- und Poly-Tonalität changierend, wirken die einzelnen Stücken von weniger als drei Minuten (die Gesamtdauer beläuft sich auf gut 13 Minuten) teils wild barbarisch und herb, wie im ersten Stück, einem Pesante (wuchtig), wo Trommeln und Pfeifen dominieren, oder fließend melodisch wie ein venezianisches Gondellied in der Barcarole (bzw.: Barcarolla) des zweiten Stücks. 

Herausragend aber die Klänge der Nacht, wie er sein viertes Stück beschreibt, wo er durch Glissandi, Tremoli und schwebende Klangflächen eine mystisches, ja ätherisches Klima erzeugt. Der Wald als Ort des Zaubers und der Geister. 

Die abschließende „Hetzjagd“, bestehend aus gnadenlos schnellen, perkussiven Repetitionen, erinnert wieder an die Wildheit und Ausgelassenheit der sogenannten „Bauernmusik“ des Balkans. Ein durchgehendes rhythmisches Ostinato in der linken Hand erlaubt es der rechten, ein virtuoses Spiel auf die Tasten zu zaubern. Brutal und doch detailverliebt bis in jede einzelne Note.


Roman Borisov (Foto: Victor Dmitriev)

Eine romantische Rückschau

Borisov überzeugt bereits in diesen anspruchsvollen Piècen durch ungeheure Musikalität und tiefes Verständnis der doch differenzierten Charakterstücke.

Gleich wechselt er zu Leopold Godowskys – selbst ehemals Pianist und Wunderkind – so genanntem Renaissance Zyklus. Warum so genannt? Weil er selbst darin lediglich barocke Werke nach berühmten Komponisten transkribierte, und weil dieser Zyklus doch ein Fragment geblieben ist. Vier Bücher mit 24 Werken sollten es werden, übrig geblieben sind lediglich drei mit 16 Bearbeitungen, die er Anfang des 20. Jahrhunderts begann und in den 1920er Jahren der Öffentlichkeit selbst vorstellte.

Borisov wählte drei davon aus. Die Sarabande aus dem ersten Band, eine hoch romantische Rückschau auf diese barocke Tanzform nach der Vorlage aus der Suiten Sammlung für Klavier (1727) von Jean Philippe Rameau (1683-1764). Die Pastorale aus dem zweiten Band, die sich auf Arcangelo Corellis (1653-1713) „Weihnachtskonzert“ aus dem Jahre 1689 bezieht, sowie die Courante aus dem zweiten Buch der Übungen für Cembalo (1712) vom belgischen Komponisten Jean Baptiste Loeillet (1688-1720).


Viel Zeitgeschmack

Alle drei Stücke beziehen sich auf die originalen Vorlagen der barocken Meister, werden aber, und das im Sinne des Historismus des frühen 20. Jahrhunderts, von Godowsky stark verfremdet. Um nicht zu sagen, dass er doch ziemlich darin herumgriff, um womöglich den Zeitgeschmack und das Hörbedürfnis des Publikum zu befriedigen.

Auch hier glänzte der junge Russe durch tiefe musikalische Durchdringung der kurzen Tänze, wobei seine perfekte Pedalierung und seine großartige Fähigkeit, den Cantus Firmus herauszuarbeiten besonders hervorgehoben werden muss. Der Schluss der Courante war von einer solchen Gesanglichkeit, dass selbst das Publikum nicht recht wusste, ob es Beifall oder Fortsetzung des Klangrausches verlangen sollte.


Roman Borisov (Foto: Nikolaj Lund)

Barock aufbereitet für die Seele der Romantik

César Franck wiederum sollte das absolute Kontrastprogramm dazu herstellen. Bekanntlich hat César Franck bereits in Jugendzeiten die Orgel zu seinem Hauptinstrument gewählt und auch entsprechend seine Kompositionen daran orientiert. Sein Triptychon Prélude, Choral et Fugue für Klavier aus dem Jahre 1884 gehört somit in diese Phalanx seiner Kompositionen und dabei zu seinen reifsten Produktionen überhaupt. 

Es ist zwar sein erstes und einziges Werk für Klavier dieser Art, aber durchaus geprägt von der Orgel und ihren Klangstrukturen. Drei Formteile aus der Welt des Barock, aber aufbereitet für die romantische Seele des 19. Jahrhunderts. 

Ein Prélude von starker Dramaturgie, die in einen Choral von orchestralem Charakter mündet und eine gewaltigen Mittelteil enthält, der sogar als Soundtrack im bekannten Filmstreifen Sandra – Die Triebhafte (1965) von Lucino Visconti mit Claudia Cardinale in der Hauptrolle Verwendung gefunden hat.


Staunend in die Pause

Dieses gut 23-minütige Werk ist gespickt mit höchsten Schwierigkeiten, die sich vor allem in der abschließenden Fuge und Doppelfuge zu einem schier unglaublichen Dichte zuspitzt. Hier werden Themen aus dem Prélude und dem Choral wieder aufgegriffen und fugiert, und das Ganze dann in einer abschließenden Coda nach Art eines Chopin-Klavierkonzerts zu Ende geführt.

Ein unglaublich reifes Spätwerk wird von einem Pianisten der Generation Z in bester Manier, leichtgängig und doch tiefgründig, orchestral und gleichzeitig transparent, triumphal und doch bescheiden interpretiert, wie man es kaum für möglich hält. Borisov ist bereits angekommen und lässt das Publikum staunend in die Pause gehen.


Beethoven mit Schlagerhit

Der zweite Teil beginnt mit einem Frühwerk Ludwig van Beethovens: Seine 12 Variationen über ein Thema zum Ballett „Das Waldmädchen“ (WoO 71, 1796). Ein Ballett, das der zeitgenössische Komponist Paul Wranitzky (1756-1808) zum Erfolgsstück machte nach einer Melodie, die wohl ein Schlagerhit in Wien gewesen sein muss. 

Sind doch die Variationen noch stark beeinflusst von Mozart (Stichwort: Zauberflöte) und Haydn, dabei sehr an den Geschmack des Publikums angepasst und natürlich auch für seine Reputation in den entscheidenden adeligen Kreisen gedacht.

So widmete er das Werk klugerweise der Tochter des russisch-zaristischen Oberst Johann Georg von Browne-Camus in Wien, Anna Margarete von Browne, und erhielt als Dank dafür ein Pferd geschenkt, mit dem er allerdings nie etwas anfangen konnte.


Roman Borisov (Foto: Ansgar Klostermann)

Erste Freiheiten der Form und des Klangs

Sei´s drum. Beethoven Ruhm war nicht aufzuhalten, wozu diese Komposition ebenfalls beitrug. Dennoch. Thematisch dünn, entsprechen doch die einzelnen Variationen eher der gängigen Praxis im Wechsel von schnell, langsam, Moll, Dur, ohne besondere Höhepunkte aufzuweisen. Oder Doch? 

Zumindest das Scherzo der 12. Variation und die darauffolgende Coda weichen exorbitant von der Regel ab. Sie zeugen nicht allein von der Genialität des Mitzwanzigers, sondern auch von seiner fantastischen Vielseitigkeit und der Suche nach der Freiheit der Form und des Klangs.

Auch hier schafft es der junge Pianist, die Wesenszüge dieser etwa 13-minütigen Variationenfolge herauszustellen und den Abschluss im Stil des Sturm und Drang des jugendlichen Beethoven zu gestalten.


Ein Werk des vaterländischen Krieges

Höhepunkt des Rezitals sollte dann das Spätwerk, die Sonate Nr. 8 (1944) von Sergej Prokofjew werden. Unglaublich komplex bereits im ersten Satz, dem Andante dolce, das er angeblich zwei Frauen aus der Literaturgeschichte gewidmet haben soll, nämlich Puschkins Lisa und Tolstois Natascha.

An dieser Stelle sei bemerkt, dass Prokofjew wegen des Angriffs der deutschen Wehrmacht auf sein Land zum eigenen Schutz in den Ural geschickt wurde, seine Familie allerdings in Moskau zurückblieb, und lediglich seine Schülerin und spätere Ehefrau Mira Mendelson an seiner Seite blieb, der er auch das Werk widmete.

Nicht von ungefähr ist es von innerer Spannung und von starker emotionaler Bandbreite geprägt und durchaus als Spiegelbild seiner persönlichen Verfassung in dieser Zeit zu bewerten.


Meisterwerk des Kontrastes

So gehört es nicht allein zu seinem längsten der insgesamt neun Sonaten, mit knapp 30 minütiger Dauer, sondern scheint auch alle Kämpfe auszufechten, die diese wirre und lebensbedrohliche Zeit charakterisiert. In diesem Sinne haben auch die Pianisten Emil Gilels und Swjatoslaw Richter die komplexe und introspektive Natur dieses Werks herausgehoben. 

Dem entsprechend ist bereits der erste Satz, der über die Hälfte der Zeit beansprucht, ein Meisterwerk des Kontrastes, der Lyrik, des Ausbruchs, der Angst, der Liebe, des Hasses, alles wie aus einem Guss.

Ein Satz vielfach im Grenzbereich der Tonalität, wenngleich überwiegend in a-Moll geschrieben, aber doch ständig Tonarten wechselnd. Ein Ausbund an Expressivität und unfassbarem musikalischen Einfallsreichtums, trotz marginaler Melodiosität. Ein Manifest des reifen Komponisten in einer für ihn bestimmt sehr unklaren und prekären persönlichen Lage.


Bühnendrama auf der Tastatur

Auch der zweite Satz, ein Andante sognato (träumend) gehört in diesen Bereich. Ein Versuch, das Leben leichter zu nehmen, in einer Art Menuett im 6/8 Takt mit verschobenen synkopierenden Rhythmen, der düsteren Stimmung einen positiven Ausdruck zu verleihen. 

Erst im Schlusssatz, einem Vivace der besonderen Art, denn man ist eher geneigt von radikalem Presto zu sprechen, gerät noch einmal alles aus den Fugen. Heftige Repetitionen münden in einen marschähnlichen Mittelteil, sehr martialisch und aggressiv. 

Ein einfaches Motiv von drei aufeinanderfolgenden Tönen bestimmt das schier kriegerische Geschehen und weitet sich aus in einen fanfarenähnlichen Schluss mit donnernden Glockenschlägen und Reminiszenzen an die ersten beiden Sätze, die, in einer Rondoform aufgegriffen, das gesamte Werk zu einem Bühnendrama werden lässt.


Übermenschliches hörbar machen

Was Roman Borisov aus dieser Sonate macht ist einmalig insofern, als seine außerordentlich perfekte klavieristische Technik und seine wunderbare Musikalität es ihm erlauben, die einfache Thematik und Motivik in einer quasi Cantus-Firmus-Manier klingend herauszuschälen und dadurch eine Transparenz zu schaffen, die in keiner Phase das klavieristisch Übermenschliche dieser Komposition erahnen lässt. In seinen Händen entfaltet sie sich zu einem mitreißenden Erlebnis.


Roman Borisov (Foto: Nikolaj Lund)

Beste Klaviermusik - erschöpftes Publikum  

Der Applaus war freundlich, aber nicht frenetisch wie gewohnt. Das nicht wegen seines exzellenten Vortrags, sondern wegen der Auswahl der Kompositionen, die allesamt viel vom Hörer abverlangten, was leider bei einigen nicht wirklich goutiert wurde. Viel Unruhe und Erschöpfung. Dennoch ein wirkliches Highlight des RMF 2025.

Seine Zugabe: Ein Ragtime aus den 12 New Études (daraus die achte) von William Bolcolm. Auch hier eine unglaubliche Fingerfertigkeit und Spielfreude, die zudem voller Witz und Schalk steckte. Er spielte noch einmal mit den Emotionen des Publikums, schaffte gute Stimmung und Entspannung nach den wirklich anstrengenden und aufregenden 120 Minuten bester Klaviermusik.

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