Samstag, 27. September 2025

Elisabeth Leonskaja, Klavierrezital in der Alten Oper Frankfurt, 26.09.2025

Elisabeth Leonskaja (Foto: Wonge Bergmann)

Eine Arbeit für ein ganzes Leben“

Mit dem identischen Programm erregte Elisabeth Leonskaja (*1945) bereits auf dem Rheingau Musik Festival, im Juli 2021, größte Aufmerksamkeit und erntete nicht enden wollenden, stehenden Applaus. Was sie allerdings gestern in der Alten Oper Frankfurt vor vollem Haus wieder einmal präsentierte, sollte diese wohl einmalige Beethoven Interpretation seiner drei Klaviersonaten Spätwerke op 109, op.110 und op.111 noch einmal toppen und das vor allem in musikalischer Form und tief durchdachter inhaltlicher Durchdringung dieser doch völlig aus dem Rahmen fallenden Werke. 

„Mein Ziel ist es“, schreibt sie voller Weisheit, „die Lebenswahrheiten und Reinheiten der Musik erfahrbar zu machen.“ Und das, fährt sie fort, sei "eine Arbeit für ein ganzes Leben".


Ungeheure Innovationen

Insofern sind die drei Sonaten-Schlüsselwerke Ludwig van Beethovens (1770-1827), komponiert in der Zeit zwischen 1820 und 1822, allerdings erst 1823 uraufgeführt, ideale klavieristische Zeugnisse eines Menschen, der völlig taub, vielfach erkrankt und von Sorgen belastet (Stichwort: Neffe Karl), noch einmal am Ende seines Lebens zu ungeheurer Aktivität und Innovation seines gesamten Schaffens aufläuft. 

Nicht zu vergessen in diesem Zusammenhang seien auch seine Missa Solemnis op.123, die Diabelli Variationen op,119, die Planungen zu seiner Neunten op.125, die allesamt parallel dazu entstanden, oder deren Entstehen sich überschnitten.


Elisabeth Leonskaja (Foto: Wonge Bergmann)

Bekenntniswerke

Beethovens „Trilogie“ sind absolute Bekenntniswerke eines vom Schicksal Geschlagenen, aber menschlich Gereiften, und insofern Spiegelbild eines Künstlers, der sich zwischen zarter Vision in op.109 E-Dur – er widmet sie der 19-jährigen Maximiliane Brentano, Tochter seines Frankfurter Freundes Franz Brentano –, menschlicher Katastrophe, Kampf und Heilung in op. 110 As-Dur – diese Sonate hat keine Widmung und gilt seiner ganz persönlichen Zustandsbeschreibung – und Abschied von dieser Welt in eine unbeschreibliche Transzendenz – diese Sonate widmet er seinem besten Freund und Unterstützer Erzherzog Rudolf – bewegt.


Einmalige Schöpfungen

Beethoven verlässt in allen drei Sonaten in Form und Aufbau, Ausdruck und Charakter sowie Stilistik die bis dahin gängigen Pfade, schafft unter seinen Zeitgenossen Verwirrung, gar Ablehnung, und tatsächlich werden sie erst postum zu dem was sie heute sind: zu einmaligen Schöpfungen eines Jahrhundert Komponisten. 

Tatsächlich ist der Text dieser Musiken schwer verständlich, ja teilweise enigmatisch und man muss tief in die Seele des Meisters und die Bedingungen der damaligen Zeit einsteigen, um den Sinn der Struktur, der Vortragsanweisungen, der rhythmischen und metrischen Vorgaben zu verstehen und klavieristisch ans Licht zu bringen.


Elisabeth Leonskaja (Foto: Wonge Bergmann)

Cantabile e espressivo

Elisabeth Leonskaja – sie erscheint auf der Bühne in einem schwarzen eleganten Maxikleid, an den Arm- und Saumrändern mit goldenen Sternen bestückt – beginnt quasi ohne Atempause mit op.109 E-Dur, Beethovens 30ster Sonate.

Das helle E-Dur des Eingangs-Vivace, die sogenannte weibliche Tonart seiner Leonore Ouvertüre, ist ganz seiner möglicherweise „Unsterblichen Geliebten“ (Stichwort: Liebesbrief von 1812) Maximiliane Brentano gewidmet. Höchst gesanglich und von harmonischer Schönheit ist dieser erste Satz, der dann in ein Prestissimo mündet.

Ein Scherzo infernale, das den jungen Liebhaber noch einmal von Sinnen kommen lässt, aber sich sogleich im Andante molto cantabile e espressivo wieder auf den Boden der Realität begibt.


Wie eine unsterblich Geliebte

Ein Variationszyklus mit sechs wunderbaren, ja meditativen bis transzendierenden Ausschweifungen, einer choralartigen Fuge voll rhythmischer Energie in der fünften und extrem langgezogenen Trillerpassagen sowie rasenden Arpeggien in der sechsten, folgt, bevor sich der Komponist daran erinnert, was er eigentlich wollte, nämlich ein cantabile und espressivo.

Elisabeth Leonskaja spielte wie die „unsterblich Geliebte“ eines Menschen, den sie tief in ihr Herz aufgenommen hat.

Im übertragenen Sinne wie die vermeintliche Maximiliane es getan hätte, nur 60 Jahre später. Erinnerung, Freude und auch Akzeptanz einer letztlich doch unerfüllten Liebe.


Elisabeth Leonskaja (Foto: Wonge Bergmann)

Persönliche Zustandsbeschreibung

Ohne Pause wechselt die Pianistin zu op.110, E-Dur, wie gesagt, der Sonate ohne Widmung, oder anders formuliert, der ganz persönlichen Zustandsbeschreibung. Diese dreisätzige Sonate beginnt mit einem Moderato cantabile e espressivo, ähnlich wie der Schluss des dritten Satzes der vorherigen. In As-Dur geschrieben bietet sie quasi eine Reminiszenz an Beethovens Oper Fidelio (1805), insbesondere der Kerkerarie von Florestan.

Gerade von einer schweren Gelbsucht genesen, fordert er gleich zu Anfang con amabilità (sanft) und ruhige Feierlichkeit, um dann nach 12 Takten in zweiunddreißigstel-Figuren umzuschwenken und nach punktierten, abwärts drängenden Oktavsprüngen und einer langen Trillerkette, sich wieder auf die Sanftheit des Hauptthemas zurückzubesinnen. Dieser Satz endet in entspannter Ruhe, gleich einer Arie aus Mozarts reichem Gesangsrepertoire.


Apotheose eines erfüllten Lebens

Der zweite Satz, ein Allegro molto, gleicht dagegen einer Parodie auf die Sanftheit Sonatenhauptsatzes. Wienerische Gassenhauer wie: „Unser Katz hat ein Katzerl´n gehabt“, oder auch: „Ich bin lüderlich, du bist lüderlich“, mit scharfen Akzenten und rhythmischen Synkopen gewürzt, lassen mitunter ein jazziges Flair aufkommen und diesen Teil zu einem ganz besonderen Gefühlsausbruch des Meisters, zwischen Sarkasmus, Ironie und Humor, avancieren.

Es folgt wohl der „vielleicht differenzierteste und ungewöhnlichste Sonatensatz“ (Siegfried Mauser) aus der Hand des Komponisten., was schon aus den differenzierten Vortragsbezeichnungen zum Ausdruck kommt.

Der Satz, bestehend aus Rezitativen, diversen Takt- und Tonartenwechseln, fordert wie in einer Arie mal klagenden Gesang (Arioso dolente), mal ermattet klagenden (perdendo le forze, dolente), oder auch l´istesso tempo di Arioso (im gesanglichen Tempo), Gesang im angegebenen Tempo, um dann in eine dreistimmige Fuge von außerordentlicher Kraft und Zuversicht überzuleiten.

Man munkelt viel über diesen gewaltigen, fast 15 Minuten dauernden dritten Satz. Will Beethoven damit seine Danksagung für seine Genesung an die Gottheiten der Himmels aussprechen? Will er die Kraft des Geistes beschwören, die sich nicht von Unbilden des Lebens beeinträchtigen lässt? Tatsächlich kann man durchaus sein op.110, seine vorletzte Klaviersonate, als „Triumph des Geistes“ (Siegfried Mauser u.a.), als Apotheose eines erfüllten Lebens, betrachten.


Elisabeth Leonskaja (Foto: Wonge Bergmann)

Lebenswahrheiten

Entsprechend interpretierte Elisabeth Leonskaja dieses Werk. Sie ließ sich gänzlich auf die Befindlichkeit des Schöpfers dieser Komposition ein und machte aus der Fuge einen Choral von tiefer Religiosität und ein Glaubensbekenntnis an die Macht des Geistes. Sie selbst würde von „Lebenswahrheiten und Reinheiten der Musik“ sprechen.


Dramma serio mit friedlichem Pianissimo

Kommen wir zu op.111, der letzten und wohl enigmatischsten seiner Klaviersonaten. Elisabeth Leonskaja macht auch nach der vorletzten nur eine kurze Pause hinter dem glänzend gestimmten Steinway, um dann mit einen forte Maestoso in das Werk einzusteigen.

Eine dramatische Hinführung zum Hauptthema mit vielen Unisono Passagen, schnellen Sechzehnteln, langen Trillern, gewaltigen Oktavsprüngen und polyphonen Satztechniken vor allem in der Durchführung. Brodelnde Wut ist unverkennbar und verrät den düsteren Zustand des Meisters. Wie die Blitze des Zeus donnert die Pianistin die Oktaven in die Tasten (welche eine Kraft aus den Händen der Grande Dame), eine Meisterleistung der Schlacht der Emotionen in den chromatischen und oktavierenden Passagen.

Das Dramma serio endet allerdings in hellem C-Dur, einer Coda, gestaltet mit einem Diminuendo aus Akkorden, gefolgt von neuem friedlichen Gedankengang, begleitet von leisen Sechszehntel Läufen und einem ausklingenden, friedlichen Pianissimo.


Abschied von der Sonatenform

Dann allerdings folgt der Satz, der viele der Zeitgenossen am Klavier schier zum Verzweifeln gebracht hat und immer noch bringt. Eine Arietta, im Adagio beginnend, molto semplice e cantabile zu spielen, in fünf Variationen zu höchst komplexen Gebilden auflaufend, bei kaum durchschaubarer Struktur sowie von jeglicher Form abweichend.

Sie, die Arietta, bedeutet schlicht den Abschied von der Sonatenform, wie von allem, was mit ihr verbunden wird.


Elisabeth Leonskaja (Foto: Wonge Bergmann)

Wie eine Kirchenkantate

Wirkt ihr Einstieg noch wie eine Kirchenkantate, in C-Dur und 9/16 Takt geschrieben, und wird die Melodie logisch in der ersten und zweiten Variation, in langsamem Sechzehntel und punktierten Achteln, später, in ebensolchen schnellen Sechzehntel, fortgesetzt, wechselt die dritte Variation in einen 12/32 Takt, in zweiunddreißigstel Noten, die zunächst wild herabstürzend, dann extrem aufwärts strebend, das Gesangsschema verlässt und ganz neue Sphären eröffnet.

Vergleichbar mit einem modernen Ragtime oder gar Boogie Woogie wird sie weitergeführt in der 4. Variation mit lang gezogenen Ostinato-Passagen in Quinten und Oktaven bei fragmentarischem und akkordischem Überbau. Das alles im Pianissimo e molto leggiermente, wie es die Vorschrift verlangt. 


Transzendenz und absterbendes Zerfließen

Ein 12-taktiker Triller leitet dann endgültig die Schlussvariation ein. Sie greift zwar zurück auf das Kantaten-mäßige Eingangsthema, aber in schnellen Zweiunddreißigstel-Triolen und gedehnter bzw. augmentierter Oberstimme, die schwebend über dem Ganzen fortschreitet. Die Coda zieht sich über 18 Takte hin, scheint zwar das extrem transzendente Gebilde in langen beidhändigen Trillern und Tremoli wieder in Form zu gießen, was weder gelingen kann noch soll, und lässt, nach einem kurzen finalen Aufschrei (zwei Sforzati), die Arietta in einem zerfließenden Pianissimo Akkord und einem oktavierten Dreiklang der linken Hand in der C-Dur Tonika förmlich absterben.


Elisabeth Leonskaja (Foto: H.boscaiolo)

Ein Traum wird wahr

Elisabeth Leonskaja machte einen Traum wahr: Ihr identisches Programm von vor vier Jahren, wie bereits gesagt, noch einmal in der Qualität von damals zu spielen (immerhin ist sie bereits 80 Jahre auf diesem Globus und macht die Menschen mindestens seit 1978 überglücklich, denn da siedelte sie von Russland nach Österreich über und wurde im Westen bekannt). Nein, dieser Traum wurde sogar noch übertroffen, quasi auf ein neues Niveau gehoben. Denn sie spielte ganz nach ihrer Grundüberzeugung diese Werke noch einmal unter neuen Gesichtspunkten, neuen Erkenntnissen. Der frenetische Beifall und die stehenden Ovationen waren eine Selbstverständlichkeit. 

Elisabeth Leonskaja (Foto: H.boscaiolo)

Der Grand Dame gebühren noch einige Preise

Ihr „Beethoven“, den sie im gestrigen Konzert präsentierte, war von neuer Strahlkraft geprägt. Nicht Krankheit, Kummer und Sorgen prägten die einzelnen Abschnitte, auch nicht die Genesungsfreude und Jubelphrasen, sondern vor allem das Individuelle, der Gesang, die Leuchtkraft der Töne und der Bekenntnischarakter eines Menschen, der von seiner Endlichkeit Bescheid weiß und trotzdem das Leben mit allen Zügen genießt.

Elisabeth Leonskaja ist eine Einmaligkeit unter den Musikern und Pianisten dieser Welt. Sie hat wieder einmal die Herzen des Publikums erobert und sollte es noch viele Male tun. Der Grand Dame gehört in Sachen Beethoven-Interpretation mindestens der Ernst von Siemens Preis und ein Opus Klassik, das wäre trotz ihrer vielfältigen Auszeichnungen noch das Allerwenigste. 


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