Boris Godunov, Oper in vier Akten von Modest Mussorgski nach dem gleichnamigen Drama von Alexander S. Puschkin (1825) und der Geschichte des russischen Staates (1818) von Nikolai M. Karamsin, Instrumentation von Dmitri D. Schostakowitsch (1939/40), Oper Frankfurt, Erstaufführung dieser Version, 08.11.2025 (Premiere 02.11.2025)
| Alexander Tsymbalyuk (Boris Godunow) und Ensemble (alle Fotos: Barbara Aumüller) |
Nationalepos mit Hindernissen
Ein musikalisches Volksdrama voller Zerrissenheit, ein historisches Nationalepos mit unterschiedlichsten Lesarten und Interpretationen von guten vier Stunden Dauer, das Modest Mussorgsky (1839-1881) viele Jahre beschäftigte und sein kompositorisches Schaffen wesentlich beflügelte.
Mehrere Male von der Zensur abgelehnt, schafften es seine Versionen (1869/1872 und 1874) kaum auf die Bühnen, und erst später erfolgte Bearbeitungen, unter anderem von Rimski-Korsakow (1893) und Schostakowitsch (1939/40), konnten dem monumentalen Werk eine gewisse Popularität abgewinnen, wenngleich es bis heute doch relativ selten auf den internationalen Bühnen zu erleben ist.
Mehr handwerkliche Sicherheit der Instrumentation
Schostakowitschs Version allerdings bleibt im wesentlichen bei der zweiten Fassung von 1872, verändert er doch lediglich einzelne instrumentale Passagen, schreibt selbst darüber, dass er Mussorgski für den größten russischen Komponisten halte und dass er seine Haltung in diesem monumentalen Werk sehr schätze, vor allem das Herausheben der Widersprüche von Volkswille und Machtstreben der Herrschenden, wobei er sich speziell auf die Zeit des „Trümmerhaufens“ Europa (der Weltkrieg II stand vor der Tür) bezieht, die ihn deprimiert, von allen Geistern verlassen gestimmt habe.
In diesem Werk eines Gleichgesinnten hätte er die Gelegenheit gesehen, die amoralische volksfeindliche und verbrecherische Macht an den Pranger zu stellen und das mit einigen für ihn wesentlichen Veränderungen bei der Instrumentation: Konkret in der Anzahl der Instrumente sowie in der Pointierung der musikalischen Eingriffe, denn einiges, so Schostakowitsch war einfach „schwach, denn Mussorgski fehlte die handwerkliche Sicherheit“, was seiner Unerfahrenheit in diesem Genre geschuldet war.
| Bildmitte Michael McCown (Gottesnarr; unter dem Tisch), Ensemble |
Nicht die Politik, der Mensch steht im Vordergrund
Das Frankfurter Team um Keith Warner (Regie), Thomas Guggeis (musikalische Leitung) sowie der Dramaturgin Mareike Wink hat sich für die letzte Version von 1939/40 entschlossen, weil sie ihrer Auffassung nach der aktuellen Gesamtlage weltweit tatsächlich am nächsten kommt.
So betont Mareike Wink vor allem das Problem der Geschichtsklitterung und fragt: welchem historischen Narrativ kann man eigentlich noch Glauben schenken? Thomas Guggeis hebt vor allem die charakteristische Instrumentation von Schostakowitsch mit Schlagwerk, Celesta, Xylophon, Kontrafagott, Klavier oder auch Bassklarinette hervor, die absurde Farben erzeugen könnten und den Sarkasmus der Thematik besonders hörbar und augenscheinlich mache.
Während Keith Warner immer wieder betont, es gehe ihm hier nicht um Politik und Geschichte, sondern schlicht um den „Menschen zwischen Macht, Religion und Sex“. Die einzelnen Charaktere sind es, die ihn reizen. Der Menschen eigene Kontrast zwischen innen und außen, zwischen Wahn und Realität, Moral und dunkler Verwerflichkeit, Bösartigkeit und Skrupellosigkeit.
Aufstieg und Fall des Zaren
Kommen wir an dieser Stelle zur Inszenierung auf der Frankfurter Opernbühne. Zuvor noch eine kurze Inhaltsanalyse. Worum geht es? Es geht um den Aufstieg und Fall des Zaren Boris Godunov, der den Thron durch den vermeintlichen Mord am Thronfolger Dimitri I usurpiert hat.
Dennoch ist er von Schuldgefühlen und Ängsten geplagt, zerbricht daran und stirbt. Währenddessen leidet sein Volk an Hunger, Armut und Missbrauch. Ein „falscher“ Dimitri tritt auf die Bühne und verspricht Besserung, dem das Volk glaubt, ohne zu ahnen, dass er alles andere als gute Absichten hegt.
| v. l.: Dmitry Golovnin (Grigori Otrepjew), Andreas Bauer Kanabas (Pimen) |
Publikum als Gefängniswärter
In vier Akten einem Prolog und 10 Bildern beschreibt Mussorgski in einer Art Diorama, einem Guckkasten, in Frankfurt durch ein Panoptikum, das von allen Seiten Einsicht ins Geschehen ermöglicht, realisiert (ein perfekte Idee des Bühnenbildners und Kostüm Entwicklers Kaspar Glarner), ein Drama in Bildern, das auch als szenische Galerie herhalten könnte.
Immer sind die Einsichten des Publikums in die teilweise ganz privaten Szenen offen und zur Schau freigegeben. Das Publikum wird zum Gefängniswärter, quasi zum Kontrolleur der Handlung auf der Bühne. Warner bemüht dazu den Schriftsteller Luigi Pirandello (1867-1936), der seine Leser dazu einlädt, selbst aktiv zu werden und die Vorgänge eigenständig zusammenzufügen.
Tatsächlich ist jedes Bild ein Kunstwerk für sich. Mal sind es die Massen, die das Geschehen dominieren (wie im 1., 2., 8., 9. und 10. Bild), mal ganz intime Vorgänge, wie im Zarengemach des zweiten Aktes (5. Bild), oder Ereignisse im Schloss Sandomir im Dritten Akt (6. und 7. Bild).
Ein permanenter Wechsel von Stimmungen, menschlichen Schwächen und Stärken, Leid und Freude, Machtdemonstration und Unterwürfigkeit.
Reuevoller Herrscher – ohne Gnade
Natürlich geht es zentral um Boris Godunov (Alexander Tsymbalyuk, Bass), ein Ukrainer von Hause aus mit der Ausstrahlung eines Zaren, groß gewaltig und beschenkt mit einem Bass, dem keine Tiefe zu tief ist. Seine Rolle ist von tiefer Resignation und Hoffnungslosigkeit umgeben. Eigentlich gehört er zu den wirklich Ehrlichen und Aufrichtigen, wenn, ja wenn er nicht am Mord des Thronfolgers Dimitri beteiligt gewesen wäre.
Diese, doch offene Frage (die Historie ist sich uneinig) lässt ihn leiden und von Schuldgefühlen plagen. Eigentlich lehnt er die Zarenkrone ab, wenn ihn nicht das Volk dazu nötigen würde. Oder sind es nicht eher die Bojaren, die Duma Mitglieder, die das Volk dazu nötigen? Seine Rolle als Familienvater und reuevoller Herrscher macht ihn sympathisch, aber nicht beliebt beim Volk, denn das leidet, wie gesagt, unter der staatlichen Gewalt und der verbreiteten Armut.
| Alexander Tsymbalyuk (Boris Godunow), Michael McCown (Gottesnarr; kniend) |
Russisches Stillleben
Kommen wir zur Zarenfamilie im zweiten Akt. Eine herrliche Kulisse rund um den Schreibtisch des Herrschers. Seine Kinder Fjodor (Karolina Makuła, Mezzosopran) und Xenia (Anna Nekhames, Koloratursopran) toben ausgelassen mit einigen Gespielen um den Vater herum, die Amme (Judita Nagyová, Sopran) beturtelt ihre Anvertraute und tröstet sie über das frühe Ableben ihres namenlosen Bräutigams hinweg.
Alles mit Kissen im Kreis und rollendem Ball, von tiefer Zuneigung und familiärer Ungezwungenheit geprägt. Daran kann auch der Intrigant und Macht lüsterne Fürst Schuiski und Bojar der Duma (AJ Glueckert, Tenor) zunächst nichts ändern. Er allerdings ist der Nachrichtenübersender der Boshaftigkeit, warnt den Zaren ob eines geplanten Umsturzes. Ein Rezitativ voller Hintergründigkeit. Die Uhr tickt.
Alle Rollen in diesem Akt sind von einem ausnehmend schönen Gesang, begleitet von einer hinreißenden Volksmusik voller Leichtigkeit, Einfachheit und russischer Wärme. Guggeis entwickelt hier ein herrliches Farbenspiel mit seinem 80-köpfigen Orchester. Mussorgski sagt man, verwendet ausschließlich Eigenkompositionen und habe sich nicht an Vorlagen orientiert.
Geschichtsklitterung mit Folgen
Hervorzuheben auch der erste Akt aus der Bibliothek der Mönche. Pimen (Andreas Bauer-Kanabas, Bass) schreibt die Geschichte Russlands nach seiner Fasson (oder ist es Alexander Puschkin?). Er entscheidet sich vermittels eines Traumes für den Mord an Dimitry, begangen von Boris, obwohl nichts davon belegt ist. Eine Geschichtsfälschung par excellence, aber von gewaltiger Tragweite. Sein Adlatus Grigory Otrepjew (Dmitry Golovnin, Tenor) hört ihm gut zu, und ihm kommt die Idee, als falscher Dimitri den Zarenthron zu usurpieren.
Dieser Akt wird durch das Bild einer Kneipe an der Grenze von Litauen ergänzt (Stichwort: Drehbühne). Der „falsche“ Dimitry geht mit zwei Mönchen, Warlaam und Missail (Inho Jeong, Bass, Peter Marsh, Tenor), zur Grenze und landet in einer Spelunke, die von einer gut informierten und gerissenen Schankwirtin (Claudia Mahnke, Mezzo) geführt wird. Niedertracht und Intrige pur. Der „falsche“ Dimitry wird bereits gesucht, kann aber bei einer Razzia entkommen.
Auch hier glänzen die beiden Mönche wie aus der Commedia Dell 'arte durch Lüge, Niedertracht, Eigennutz und hervorragende Stimmen.
| Sofija Petrović (Marina Mnischek, Thomas Faulkner (Rangoni) |
Zwischen Sadomaso und politischem Kalkül
Kernpunkt der Oper ist der sogenannte Polen Akt, der dritte Akt, den Mussorgski wegen der Zensur 1872 seiner Oper hinzufügte. Er umfasst Bild 6 und 7 und könnte auch als Filmstreifen mit einem Schuss Kitsch as Kitsch can abgehen.
Dimitry, der notgeile Macht Prätendent gerät in die Fänge einer polnischen Fürstentochter, Marina Mnischek (Sofija Petrović, Mezzosopran), und beide entschließen sich, die Zarenkrone in Moskau zu erobern. Tatsächlich ein gewaltiges Bild von sexueller Abartigkeit, wo der Jesuit und Berater der Gelangweilten, Rangoni (Thomas Faulkner, Bass), in einer Sadomaso-Berater-Rolle Einfluss auf das orthodoxe Christentum in Russland nehmen möchte. Seine sexuelle Begierde ist bei ihm anrüchig gepaart mit Macht und Intrige.
Eine lange Liebesszene zwischen Marina und Dimitry ist zwar weit entfernt von Romeo und Julia oder Tristan und Isolde, nimmt aber dennoch einige Anleihen. Viel Herzschmerz und Liebesbeteuerungen, aber alles durchsetzt mit Macht- und Sex- und Herrschaftsstreben.
Geisha vs. Jesuit
Dazu kommen noch Ballszenen erkennbar aus Chopins Polonaise A-Dur op.40, Symbol des polnischen Ruhms, und ein skurriler Bärentanz mit Dompteur (Emma Ibáňez, Tadas Almantas), eine wunderbare Metapher für die menschliche Niedertracht gegenüber Russland, das als Bär an der Nase herumgeführt wird.
Sofija Petrović ist einer der Glanzpunkte des Abends. Mit frecher, provokanter Stimme versteht sie ihre Interessen durchzusetzen (Russland zu erobern und die Religion gleich mit) was ihr, angelehnt an die japanische Geisha-Kultur (mit japanischem Outfit), auch überzeugend gelingt. Thomas Faulkner spielt seine Rolle perfekt und treibt mit verführerischem Bass das Vorurteil gegenüber den Jesuiten noch zusätzlich auf ungeahnte Höhen.
| v. l.: Alexander Tsymbalyuk (Boris Godunow), Michael McCown (Gottesnarr), AJ Glueckert (Fürst Schuiski) |
Kommen wir zu den Gemälden 8, 9 und 10. Hier spielt sich das Desaster auf höchstem Niveau ab. Wie soll das Chaos, der Krieg aller gegen alle, Lug und Trug all überall enden? Was treibt der Leviathan?
Wie gesagt, Boris stirbt einen langen, langsamen Tod, setzt seinen Sohn Fjodor auf den Thron und hofft auf Vergebung.
Hier kommt der Gottesnarr (Michael McCown, Bariton) ins Spiel. Er, vom Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus einstmals als „Blödsinniger“ interpretiert, scheint als einziger die Realität zu sehen (wenngleich er von himmlischen Wesen umgeben wird).
Zumindest verkörpert er das moralische Gewissen der Russen, wird aber vom hungernden Volk missachtet. Sein Behauptung, Boris habe den Mord an Dimitri zu verantworten, lässt allerdings die letzten Reste der Glaubwürdigkeit des Zaren schwinden. Ebenso seine Weigerung, ihm zu verzeihen (auch wenn der Zar ihm eine von Soldaten geraubte Kopeke zurückgibt).
Das Ei des Lebens wie des Abgrunds
Der Aufruhr ist programmiert. Wie gesagt, Boris stirbt (einsam, ohne Beistand), sein Sohn Fjodor wie seine Tochter Xenia werden massakriert, gedemütigt, ihres herrschaftlichen Ornats beraubt.
Pompös erscheint der falsche Zar Dimitri mit seiner Angetrauten Marina. Er steigt sozusagen vom Himmel herab, thronend auf einer Eier legenden übergroßen schwarzen Henne, wie überhaupt im Finale die Eier eine hervorragende Rolle einnehmen.
Bekannt als Fabergé-Eier (nach dem gleichnamigen russischen Erfinder um 1820 benannt), kostbare Ostergeschenke von höchstem Wert, sind die Eier nicht allein im Katholizismus, sondern auch im orthodoxen Christentum Symbol von Leben, Reinheit, Unschuld und Glaube, wie es heißt.
Hier hat der Zar seinen Thron in einem prachtvollen Ei postiert, sitzt der „falsche“ Zar aber ebenfalls quasi auf einem Ei, das die Henne gerade produziert, und last but not least entsteigt in der Schlussszene der Gottesnarr einem Ei, das er, wie ein neu geborenes Küken, durchbricht. Viel Symbolik zwischen Hoffnung und Niedertracht, zwischen Glaube und Abgrund, zwischen Resignation und Aufbruch.
Auch wenn der Narr unter einem geöffneten Schirm abgeht, einem Symbol der Gottesferne, der Sündhaftigkeit wie auch der Vergänglichkeit, kann doch der Schlussspruch des Narren: „Weine, weine armes Russland“ nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Volk mal wieder jeglicher Manipulation aufgesessen ist. Man könnte abwinken und dem Weiter-so-wie-Gehabt frönen. Oder?
| Karolina Makuła (Fjodor) und Anna Nekhames (Xenia) sowie Ensemble |
Metaebene des Nachdenkens
Diese Inszenierung hat es in sich. Musikalisch eine Entdeckung zwischen musikhistorischer Tradition und Schostakowitscher Moderne, von Thomas Guggeis und dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester in hervorragender Weise umgesetzt. Ein Bühnendrama von gewaltigem Bilderreichtum, exzentrischen Ideen und gedankenreicher Symbolik (Dank an alle Beteiligten), mit Sängerinnen und Sängern der Extraklasse, wie eigentlich gewohnt bei der Frankfurter Oper.
Dazu gehört auch der gestandene und meisterhaft agierende Chor, Extrachor und Kinderchor der Oper Frankfurt unter der umsichtigen und theaterreifen Leitung von Álvaro Corral Matute sowie die inhaltliche Auseinandersetzung des Teams um Keith Warner mit einer zeitlosen wie zeitgebundenen Thematik, die tatsächlich jeden einzelnen, trotz der kaum überschaubaren Dioramen, doch zu einer Metaebene des Nachdenkens auffordern sollte.
Ein anstrengender Abend, nichts für Musikkonsumenten und erst recht nichts für mangelndes Sitzfleisch. Viel Unruhe während der Vorstellung, trotz zweier Pausen. Der Beifall war freundlich distanziert. Der Kommentator begeistert.
| Schlussapplaus mit allen Beteiligten Foto: H.boscaiolo |
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