Montag, 24. November 2025

Helsinki Philharmonic Orchestra, musikalische Leitung: Jukka-Pekka Saraste, Violine: Guido Sant´Anna, Alte Oper Frankfurt, 23.11.2025

Helsinki Philharmonic Orchestra
(Foto: Maarit Kytoharju)

Mystischer Ort - Rovaniemi

Eisige Kälte in Frankfurt, Schneefall und Winterstimmung. Dazu passten genial Outi Tarkiainens (*1985) Songs of Ice (2019), die den vollbesetzten Saal der Alten Oper Frankfurt in beste Laune versetzten, denn dieses gut 13-minütige Orchesterwerk über das Eis atmet den Geist der Arktis.

Es grollt und rauscht, quietscht und klagt aus allen Instrumentengruppen. Zudem ist das Werk in Rovaniemi, dem Geburtsort der Komponistin entstanden, einem mythischem Ort, denn von dort geht nach ihrer Sage der Weihnachtsmann in alle Welt und bringt Gaben und Frieden.

Rovaniemi bedeutet nach samischer Tradition das Tor zum Norden und gleichzeitig den Ort, an dem die Bewegungen der Arktis wissenschaftlich erforscht werden. Was will man mehr.


Jukka-Pekka Saraste (Foto: Felix Broede)

Ungeheuerliche Dynamik

Ein Einstieg, der besser nicht hätte gewählt werden können. Das Helsinki Philharmonic Orchestra (gegründet 1882) unter der Leitung ihres Chefdirigenten Jukka-Pekka Saraste (*1959), leider sehr selten in Frankfurt zu Gast, trat in seiner gesamten Größe und Gewalt auf die Bühne und entführte das Publikum gleich in die gigantomanische Erscheinung der arktischen Pole mit perkussiven Paukenschlägen, drohenden Hörnerklängen starken Obertonreihen der Streicher, Glockenspielen und flirrenden Trillern.

Eine Atmosphäre von ungeheuerlicher Dynamik, kristallinen Zersplitterungen und gleichzeitig tröstenden Streicher Teppichen, die eine vermeintlich wärmende Decke über das menschenfeindliche Geschehen legen. Die Komponistin bringt ihre Komposition in den Zusammenhang der Geburt ihres zweiten Kindes und beschreibt sie als Prozess der Trennung und Wiedervereinigung. Wunderschöne, aber vielleicht für uns Mitteleuropäer etwas befremdliche Idee.


Überwältigende Naturgewalt

Dennoch, dieses vielfach ausgezeichnete Werk, das oft mit ihrem parallel entstandenen, zweiten Midnight Sun Variations (2019) aufgeführt wird, gehört in die Kategorie „Naturgewalt, die einen Menschen überwältigen und ganze Schicksale verändern kann.“ (O-Ton: Outi Tarkiainen)

Helsinki Philharmonic Orchestra, Jukka-Pekka Saraste,
Guido Sant´Anna 
(Foto: Tibor-Florestan Pluto)

Überstiegene Vorstellungskraft

Guido SanAnna (*2005), ein sehr, sehr ernst dreinblickender junger Mann aus der brasilianischen Stadt São Paulo, betrat erstmals in Frankfurt die große Bühne der Alten Oper, gemeinsam mit seiner „Jean-Baptiste Vuillaume“ Geige aus dem Jahre 1874 (eine Leihgabe des Geigenbauers Marcel Richters), und eroberte den Saal restlos. Was er auf seiner Violine hervorzauberte überstieg wirklich alle Vorstellungsvermögen. Ein Strich wie aus einem Guss, eine Dynamik und Technik, die alles überstieg und zugleich von melodisch göttlicher Schönheit, und das alles ohne Übertreibung.


Nationaler Held der Finnen

Aber kommen wir zum Werk selbst. Jean Sibelius (1865-1957) schrieb sein einziges Konzert für Violine in d-Moll op.47 in den Jahren 1902 bis 1905. Seine geigerische Karriere wurde durch eine Unterarmverletzung jäh beendet, und er konzentrierte sich auf seine kompositorischen Fähigkeiten, die er bei Ferruccio Busoni und Karl Goldmark erwarb.

Seine Aufenthalte in Berlin und Wien ließen ihn mitteleuropäische moderne und nordisch folkloristische Kulturen miteinander verbinden. So ist dieses Werk noch geprägt von Brahms, Mendelssohn wie auch Tschaikowski, Rimski Korsakow und nicht zuletzt Edvard Grieg. Aber zugleich ist es durchdrungen von nordischer, finnischer und skandinavischer Folklore und traditionellen Tänzen. 

Nicht von ungefähr wurde Sibelius ungewollt durch seine Musik zu einem nationalen Helden der Finnen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts ihre Souveränität gegenüber Schweden und Russland erkämpften. Die Chorgesänge Kullervo (1892) sowie Finlandia (1899) bekamen den Nimbus von Nationalhymnen und Sibelius gehörte zu den meist gespielten und gehörten Komponisten des Landes.


Helsinki Philharmonic Orchestra, Jukka-Pekka Saraste, Guido Sant´Anna
(Foto: Tibor-Florestan Pluto)

Zweimal durchgefallen

Sein Violinkonzert schrieb er gleich zweimal, denn die Erstfassung, die er 1904 in Helsinki selbst dirigierte, fiel durch. Joseph Joachim, der damals berühmteste Geiger überhaupt, erklärte es als „scheußlich“, und die internationale Kritik schloss sich dem im Wesentlichen an. 

Die Uraufführung seiner Zweitfassung fand 1905 in Berlin unter der Leitung seines Freundes Richard Strauss statt. Aber auch diese fiel durch. Heute allerdings gehört es zu den renommiertesten Konzerten, denn es verlangt Interpreten wie Orchestern alles ab und gehört zur Spätromantik wie zur Moderne wie diejenigen von beispielsweise Peter Tschaikowski und Max Bruch.


Kontrastierendes Leben

Die Interpretation des dreisätzigen Werkes war extrem auf den Solisten zugeschnitten, der dem Stück ein kontrastierendes Leben einhauchte. Gleich zu Beginn ein herrlicher motivischer Einstieg der Solovioline bei gedämpfter Streicherbegleitung und bald darauf eine erste Solokadenz von fast lyrischer Stimmung bei höchsten technischen Anforderungen.

Der Sonatenhauptsatz spitzt sich in der Durchführung zu höchster Dramatik zu, die Violine korrespondiert mit Fagott, Kontrafagott, Hörnern und Streichern, ehe sie zu einer ausgedehnten Solokadenz überleitet, ein Meisterstück der musikalischen Apotheose. Eine lange Coda mit düsterstem Kolorit beendet dieses Allegro und führt nach einem Zwischenapplaus in das Adagio des zweiten Satzes.


Helsinki Philharmonic Orchestra, Jukka-Pekka Saraste
(Foto: H.boscaiolo)

Tiefe Hingabe – Wahnsinn pur

Es ist in dreiteiliger Liedform geschrieben und von tiefer Romantik beseelt. Sant´Anna spielt es mit tiefer Hingabe, unendlichen Seufzern und hellstem Pianissimo. Das Orchester wiederum ist dabei sein bester Begleiter. Die Hand des Dirigenten Saraste ist bis in die letzten musikalischen Fasern spürbar.

Dann das Finale mit perkussivem Einstieg und heftig punktierten Sechszehntel des Solisten und der Streicher. Ein ekstatischer Danse macabre mit monotonem Rhythmus und synkopierten Tanzeinlagen. Auch hier wieder ein Sonatensatz, aber mit ungeheuerlicher Kontrastierung vor allem in der Durchführung, wo der Sologeiger auf diverse Variationen antwortet, künstlerisch wie technisch auf höchstem Niveau.

Die Reprise lässt noch einmal das makabre Thema ausbrechen, bevor die kurze Coda nach einem Flageolett des Solisten ein lautes Donnern der Bleche und Pauken in den Saal donnert. Der Wahnsinn hat ein Ende und das Publikum springt förmlich von den Sitzen.


Helsinki Philharmonic Orchestra, Jukka-Pekka Saraste
(Foto: H.boscaiolo)

Bescheidene Genialität

Guido Sant´Anna wirkt mit seinen 20 Jahren bescheiden und fast ein wenig schüchtern. Kein Lachen im Gesicht, nur tiefer Ernst. Sein Auftreten erinnert ein wenig an den Teufelsgeiger Niccolò Paganini, den man so nannte, weil er über scheinbar übernatürliche Fähigkeiten auf seinem Instrument verfügte. 

Nein, kein Vergleich, aber Guido Sant´Anna ist wirklich eine Ausnahmeerscheinung auf der Bühne der Violinisten weltweit. Das bewies auch seine Zugabe. Der zweite Satz, danse rustique, aus der fünften Violinsonate (1923) von Eugène Ysaÿe (1858-1931). Ein Meisterwerk von höchster Virtuosität und tiefer Lyrik. Genial. Mehr kann man dazu nicht sagen.


Helsinki Philharmonic Orchestra, Jukka-Pekka Saraste
(Foto: Tibor-Florestan Pluto)

Ruf des Nationalkomponisten gefestigt

Der zweite Teil des Abends bestand aus der Sinfonie Nr. 1 e-Moll op.39 (1900) von Jean Sibelius höchstselbst. Auch dieses Werk, das erste von weiteren sechs, brauchte mehrere Anläufe, ehe es in der Letztfassung bis heute Bestand hat. Denn die Erstfassung (1899) ging verloren und Sibelius musste eine neue Version schreiben. Die Uraufführung dieser Version fand am 01. Juli 1900, unter der Leitung seines Freundes Robert Kajanus (1856-1933), in Paris statt. Diese Aufführung war allerdings von Erfolg gekrönt und sollte den Ruf Sibelius´ als ausgewiesener Nationalkomponist weiter festigen.


Herbes Werk – voller Sehnsucht, Klage, Schmerz

Diese viersätzige Sinfonie ist wie das Violinkonzert, noch von west- und osteuropäischen Einflüssen wie Tschaikowski, der russischen Gruppe der Fünf ( Mussorgsky, Balakirev, Rimski Korsakow, Borodin und Cui), sowie Brahms und Wagner beeinflusst, kann aber bereits als eigenständiges, der nordischen Tradition gerecht werdendes Werk gelten. 

Die nordische wie auch finnische Seele wird bereits angesprochen. Als „herbes Werk“ wird es im Reclam Konzertführer beschrieben. Es sei „angefüllt mit Ausdruck, Sehnsucht, Klage und Schmerz“.

Na ja. Tatsächlich ist es ein kontrastreiches Konvolut, Ausdruck der geschundenen und erregten Seele der Finnen Ende des 19, Jahrhunderts, und somit auch ein Spiegelbild der nationalen Gefühle eines Volkes. Sibelius trifft auch hier das Empfinden der Finnen, stellt Licht und Schatten nebeneinander und lässt Hymne, Folklore, Trauer und Träume, Zuversicht und Hoffnung nebeneinander bestehen.


Helsinki Philharmonic Orchestra, Jukka-Pekka Saraste
(Foto: Tibor-Florestan Pluto)

Filmmusik wie von John Williams

Bereits das Andante des ersten Satzes beginnt mit einem Klarinettensolo, begleitet von der Pauke. Eine Einleitung zum Haupt- und Seitenthema, begleitet von einem lang anhaltenden Klangteppich der Streicher bei einem wunderschönen Solothema der Oboe. Eine fantastische Welt der Spätromantik. Die sich in einem energiereichen Allegro auflöst. 

Das folgende Andante wiederum besteht aus fünf gesanglichen Strophen, die von den Violinen kontrapunktisch aufgenommen und umspielt werden. Eine Filmmusik, wie aus den Händen von John Williams. Aber auch Edvard Grieg und Peter Tschaikowski scheinen hier ihre Hände im Spiel zu haben.


Zwischen Freud und Leid

Das Scherzo, ein repetitiver Abschnitt von ausgesprochen tänzerischer Natur, bildet ein Volksfest ab, flott und aufreizend. Doch das Trio fällt in ein Lento zurück, ein Trauermarsch mitten im Getümmel der Freude? Ja, es ist so, zwischen Himmel-hoch-jauchzend-zu-Tode-betrübt, das ist die Stimmung dieses dritten Satzes.


Erfrischend düstere Großartigkeit

Der Vierte dann, das Finale wird mit quasi una fantasia betitelt, greift auf die Thematik des Eingangssatzes zurück und lässt zunächst die Streicher in gewaltigem Unisono Ton das Thema intonieren. Die Flöten, Klarinetten und Oboen dominieren den Mittelteil, der in einem Fugetto mit präzisem Kontrapunkt fortgesetzt wird. 

Hier hört man unwillkürlich Mahler und Wagner, und dennoch sind die Melodien nordisch, wie ebenfalls der Klangduktus an die aufkommenden Broadway-Musicals erinnert. War Sibelius Ideengeber des Broadway?

Dieses Finale jedenfalls war von erfrischender wie von düsterer Großartigkeit geprägt. Ein Kontrast der Superlative und eine Interpretation des bestens aufgelegten Helsinki Philharmonic Orchestra und seines Chefs Jukka-Pekka Saraste, die wirklich die Seele der Finnen im winterlichen Frankfurt offenlegte, und das mit einer Intensität, die fragendes Staunen zurückließ.

Helsinki Philharmonic Orchestra, Jukka-Pekka Saraste
Foto: H.boscaiolo)

Sibelius lebt

Der Beifall war entsprechend und die Zugaben ein weiteres Indiz für die Lebendigkeit und Aktualität des Jean Sibelius als Nationalkomponist der Finnen im 21. Jahrhundert. 

Zunächst eine selten gespielte Ballade „Der Barde“ op.64 (1913), eine sehr impressionistisch angelegte sinfonische Dichtung von wenigen Minuten mit strahlendem Höhepunkt und melancholischer Schlussstimmung.

Helsinki Philharmonic Orchestra, Jukka-Pekka Saraste
Foto: H.boscaiolo)

Begeisterung im winterlichen Frankfurt

Dann, schon allgemein erwartet, die Finlandia (1899/1900), die symbolische Nationalhymne der Finnen bis zum heutigen Tag. Eine Interpretation, die durch Mark und Bein ging, so, als ob die Finnen wieder einen Kampf um Irgend etwas auszufechten hätten. 

Man stelle sich einen sportlichen Wettkampf vor, und die Protagonisten sängen ihre Nationalhymnen. Hätte dieses Werk, das Sibelius tatsächlich als Beiwerk zu Pressefeiern von 1899 unter dem Titel „Finnland erwacht“ schrieb, einen Text, die im Saal Anwesenden wären aufgestanden und hätten es aus voller Brust mitgesungen. Immerhin jauchzte man ausgelassen nach dieser Vorstellung. Ein denkwürdiger Abend entließ die begeisterten Zuhörer und Zuschauer in den winterlichen Abend Frankfurts.

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