hr-Sinfonieorchester unter der musikalischen Leitung von Alain Altinoglu, Violine: Renaud Capuçon, Alte Oper Frankfurt, 28.11.2025 (im Rahmen der Großen Reihe / Fokus Unsuk Chin / Dmitri Schostakowitsch)
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| hr-Sinfonieorchester (Foto: Website) |
Ein wahrhaft kosmisches Aufgebot
Kontrastreicher kann ein Programm kaum sein: Kosmisches Sternengewitter, Hollywood pur und russische Revolutionsmusik.
Die Bühne im Großen Saal der Alten Oper Frankfurt ist gefüllt mit unzähligen Perkussionsinstrumenten, darunter allein zweimal sechs Pauken, sechs Becken, diverse Gongs und Crotales, Klangschalen, mehrere Holzblöcke, Bambusratschen, Peitschen, Kuhglocken, Trommeln, Snares, Tamburine und so fort. Allein sieben Perkussionisten aus den Reihen des hr-Sinfonieorchesters sind notwendig, um dieses kaum überschaubare Geräusch-Material zu bedienen.
Dazu das Orchester, riesengroß mit 32 Blech- und Holzbläsern, darunter zwei Tuben, ein Kontrafagott und zwei englisch Hörner, und ergänzt mit Celesta, präpariertem Klavier, Akkordeon sowie drei Harfen.
Ein wahrhaft kosmisches Aufgebot. Denn Unsuk Chin (*1961) braucht das alles für ihre Komposition Alaraph – Ritus des Herzschlags (2022), das in der vollbesetzten Alten Oper an diesem Abend seine Deutsche Erstaufführung erfuhr.
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| Alain Altinoglu (Foto: Ben Knabe) |
Heartbeat Star – Sternen Gewitter
Die Koreanerin Unsuk Chin lebt seit 1985 in Deutschland, zurzeit in Berlin, eine preisgekrönte, undogmatische, sehr kreativ arbeitende Künstlerin, die sich, eigenen Aussagen zufolge, nicht als Koreanerin versteht, sondern eher „Teil einer internationalen Musikkultur“.
In ihren Werken folgt sie ihren Träumen und Anschauungen und verarbeitet sie musikalisch. So auch Alaraph – Ritus des Herzschlags, das sie einem gleichnamigen Himmelskörper im Sternbild der Jungfrau nachempfindet.
Seine elliptische Bahn gleiche einem Herzschlag auf einem Elektrokardiogramm und seine Leuchtkraft ändere sich entsprechend der Kurve und Annäherung an die begleitenden Himmelskörper exorbitant. Ihre musikalische Umsetzung dieser sogenannten Heartbeat Star Erscheinung (deutsch: pulsationsveränderlicher Stern ähnlich eines Herzschlags) versuche sie mit Ritualmusik aus ihrer koreanischen Heimat zu verknüpfen und daraus ein rhythmisches Ganzes zu bilden.
Tatsächlich besteht dieses 15-minütige Energiegewitter aus erregenden Pulsationen, ausgehend von den Kontrabässen bis hin zum Akkordeon, gewaltigen Klangflächen, permanenten Rhythmuswechseln, die sich quasi in elliptischen Bahnen fortzubewegen scheinen.
Dabei spielen die sieben Perkussionisten eine dominante, wenn nicht gar überragende Rolle. Sie bestimmen Hell und Dunkel, Dynamik und Bewegung sowie Metrum und Lautstärke. Rituell ist dieses Sternen Gewitter vor allem wegen der immerwährenden Wiederholung der imaginären Umlaufbahnen und der klaren strukturellen Abläufe des musikalischen Geschehens auf der Bühne.
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| hr-Sinfonieorchester (Foto: H.boscaiolo) |
Kosmische Reise
Unsuk Chin ist eine Meisterin der Energie- und Kraftübertragung ihrer eigenen inspirativen Seelenzustände auf die Zuhörer. Ihre instrumentale Auswahl übt nicht allein optisch, sondern auch psychologisch eine Sogwirkung auf das Publikum aus und lässt an ihrer Reise in die kosmische Unendlichkeit teilhaben.
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| Renaud Capucon (Foto: Benjamin Decoin) |
In den USA frenetisch gefeiert – in Europa nicht
Ganz im Gegensatz zu Erich Wolfgang Korngolds einzigem Violinkonzert D-Dur op. 35 (1945/1947). Er schrieb es bereits Ende der 1930er Jahre, quasi als Ausstieg aus seinem sehr erfolgreichen Filmmusik-Geschäft in Hollywood (immerhin hatte er bis dahin bereits mehrere Oscars erobert und galt als einer der besten Filmmusik Komponisten überhaupt) und wollte sich, nach ausgiebiger Überarbeitung, mit diesem Konzert in Europa wieder einen Namen erobern.
Immerhin wurde es nach der verspäteten Uraufführung 1947 in St. Louis, mit Jascha Heifetz an der Violine, frenetisch gefeiert. Aber leider kam es in Europa nicht besonders an, zumal sich Korngold nicht von der Leichtigkeit, um nicht zu sagen Oberflächlichkeit seiner kompositorischen Stilistik trennen wollte oder konnte.
Schlechte Karten gezogen
Tatsächlich ist das Violinkonzert gespickt mit Themen seiner erfolggekrönten Filmmusiken, darunter Another Dawn (1937), Juarez (1939), Anthony Adverse (1936), oder auch The Prince and the Pauper (1937), um nur die wichtigsten zu nennen.
Dreisätzig angelegt, lässt es eher den Broadway aufhübschen als die Spätromantik und eher die Leichtigkeit des Seins nachspüren als die Ernsthaftigkeit der europäischen Musik dieser Zeit, die sich mit Dodekaphonie, Serialismus und Atonalität herumschlug. Kurz: Der Kampf um E- oder U-Musik war in vollem Gange und Korngold hatte dabei relativ schlechte Karten gezogen.
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| Alain Altinoglu, hr-Sinfonieorchester (Foto: H.boscaiolo) |
Sehr französische Interpretation
Renaud Capuçon (*1976), seine Reputation steht außer Zweifel, hat sich dennoch diesem in Frankfurt letztmals 2017 unter Christoph Eschenbach und William Hagen aufgeführten Werk zugewandt. Er spielte es sehr französisch, ein wenig in der Chanson Manier eines Jacques Brel oder Charles Aznavour, aber leider nicht in der doch zu erwartenden Aufbruchsstimmung des amerikanischen Broadway der Nachkriegszeit.
Insgesamt liedhaft interpretiert und in der Romance des zweiten Satzes wie eine Eloge an wen auch immer fortgesetzt. Das Ganze ein wenig gestelzt und pathetisch vorgetragen.
Das Finale wiederum war einem ungarischen Tanz aus dem Film The Prince and the Pauper nachempfunden, begleitet von Xylophon und Celesta, und ließ noch einmal die virtuose Kraft des Interpreten auf seiner Guarneri „Panette“ von 1737 (sie gehörte zuvor Isaac Stern) aufblitzen.
Solide Vorstellung
Alles in allem eine solide Vorstellung von Renaud Capuçon, allerdings eines Werkes, das auch heute noch kaum zu überzeugen weiß. Seine Zugabe, die arrangierte „Melodie“ aus Willibald Glucks Orpheus und Eurydike, setzte dem tiefromantischen Duktus von Korngolds Komposition noch einmal die goldene Krone auf. Wunderbar begleitet von der Harfenistin Anne-Sophie Bertrand aus dem Orchester entließ Capuçon das Publikum in die wohlverdiente Pause.
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| Renaud Capucon, Alain Altinoglu, hr-Sinfonieorchester (Foto: H.boscaiolo) |
Gigantomanische Revolutionsästhetik
Dmitri Schostakowitschs (1906-1975) Sinfonie Nr. 11 g-Moll op. 103 (1957), genannt „Das Jahr 1905“, sollte das Publikum gut eine Stunde lang in die Revolutionsgeschichte Russlands versetzen.
Auch hier wieder ein gigantomanisches Orchesteraufgebot, ebenfalls mit sieben Perkussionisten, diesmal aber mit Xylophon, Marimbaphon und diversen Klanggebern, und einem fast einhundertköpfigen Musikeraufgebot.
Schostakowitsch schrieb bekanntlich 15 Sinfonien. Die elfte gehört zu den weniger gespielten, ist sie doch neben ihrer Länge von gut einer Stunde auch stark auf das russische Publikum ausgerichtet. So besteht sie überwiegend aus Revolutionsliedern des späte 19. und frühen 20. Jahrhunderts, aus einem in Russland bekannten Kirchenlied und nicht zuletzt aus zwei eigenen Liedern, deren Texte er aus Arkadi Kots´ (1872-194) op. 88, Zehn Poems nach Texten revolutionärer Dichter (1951), entnommen hat.
„Filmmusik ohne Film“
Schostakowitsch schrieb dieses monumentale Meisterwerk für die 40-Jahrfeier der Oktoberrevolution und die russischen Zuhörer kannten nicht nur die Texte, sondern sangen auch die Lieder. Eine Erfolgs Sinfonie allemal, aber international weniger häufig gespielt, da sie mehr ein dokumentarisches Ereignis abbildet, als große Sinfonische Dichtung.
Man kritisierte sie gar mitunter als „tönende Wochenschau“, oder gar als „Filmmusik ohne Film“, denn er erzählt tatsächlich die Vorgänge am 09. Januar 1905, dem sogenannten „Petersburger Blutsonntag“, dem Tag, wo das geschundene russische Volk in Petersburg für bessere Versorgung und allgemeine Reformen demonstrierte und von der zaristischen Soldateska zusammengeschossen wurde (200 Tote mindestens).
Zwölf Jahre später ereignete sich die Oktoberrevolution, als Ergebnis dieser Katastrophe und die Feierlichkeiten im Jahre 1957 erinnerten natürlich an die historischen Vorgänge.
| hr-Sinfonieorchester (Foto: H.boscaiolo) |
Zwischen Anspannung und Ausbruch
Die Musik hat Dmitri Schostakowitsch in vier Sätze aufgeteilt, davon die ersten zwei als historisches Narrativ: das heißt im ersten Satz beschreibt er die Atmosphäre vor dem Zaren Palast, angespannt voller Erwartung, aber auch Ängste, dann im zweiten Satz die Schlacht auf dem Petersplatz vor dem Palast mit all seinen Grausamkeiten.
Alles beginnt mit düsterer Zuversicht. Die Harfen verbinden sich mit Trompeten Signalen. Dazwischen Lieder der tiefsten russischen Volksseele. Zwischendurch ein Kanon, initiiert von Flöten, weitergeführt von Oboen, Klarinetten und Fagotten. Die Lautstärke nimmt permanent zu bis zu einem Gewaltausbruch, der die martialischen Zustände auf dem vollbesetzten Platz dokumentiert.
Man hört im zweiten Satz Maschinengewehr-Rattern, Schreie und Kampfgetümmel. Massenauflauf und Marschrhythmen der zaristischen Soldaten. Alles wie in einem Cantus firmus untermalt mit Revolutionsliedern und Choralgesängen aus bekannten Kirchenliedern.
Die Perkussionisten haben alle Hände voll zu tun. Herauszuheben dabei der erste Paukist, Lars Rapp, der alles auf der oberen Plattform der Bühne koordiniert. Alain Altinoglu kann sich ungesehen auf ihn verlassen, denn Streicher und Bläser in diesem Chaos zusammenzuhalten ist ein Aufgabe für sich.
Rückblick und Vorausschau
Eine ausgedehnte Fermate und einem Streicher Orgelpunkt im dreifach Pianissimo leitet die Sätze drei und vier ein.
Hier handelt es sich um das Sammeln der Geister, das Rückblicken auf das Massaker. Die Stimmung ist gereizt, verzweifelt und wütend. Fünfmal schlagen die Pauken mit kurzer Achtelpause und es folgen Gesänge im unisono Ton, drohend und irgendwie mit Rache getränkt. Der Kampfmodus nimmt zu, man scheint sich zu besinnen, denn aus der tiefen pastoralen Melancholie, gespielt von einem Englisch Horn, erwächst zunächst düster, dann immer zuversichtlicher und lauter werdend ein Kampf Geheul, ein Aufbruch zu neuen Taten.
Die fünf großen Glocken werden angestimmt, sie gleichen einem Sturmgeläut, und das gesamte Perkussionsarsenal wird bis ins Extreme aktiviert. Die Orchestermitglieder reißt es zwischen Marsch und Protestsongs hin und her, ein Cantus Firmus von ungeheurer Durchschlagskraft und von Protestrufen geschwängert. Ein Finale Grande wie ein Film.
Wer denkt hier nicht automatisch an Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin mit Schostakowitschs Musik, oder auch an diverse Filme zu denen er die Musik schrieb, wie „Die Jugend von Maxim“ (1934), „Die junge Garde“ (1948), oder auch „Das Jahr des Lebens“ (1956).
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| Alain Altinoglu, hr-Sinfonieorchester (Foto: H.boscaiolo) |
Die Große Reihe: Alle 15 Sinfonien und Unsuk Chin
Die Sinfonie
Nr. 11 ging tatsächlich unter die Haut. Das
hr-Sinfonieorchester gab alles und erreichte alles. Zurzeit
ist es dabei, alle 15 Sinfonien von Dmitri Schostakowitsch
aufzunehmen und dem Publikum zu präsentieren. Unsuk Chin im Fokus gehört bis ins kommende Jahr mit zwei weiteren
Kompositionen
dazu. Man wünscht dem Orchester und Alain Altinoglu,
der noch bis 2028 Chefdirigent des hr-Sinfonieorchesters ist,
dabei vollen Erfolg. Möge es ihnen gelingen.







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